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"Ich auf dem Weg hier zu mir"

  Dichtung als Weg: Zu einigen Texten Celans

 » Eines Abends, die Sonne, und nicht nur sie, war untergegangen, da ging, trat aus seinem Häusel und ging der Jud, der Jud und Sohn eines Juden, und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche, ging und kam, kam dahergezockelt, ließ sich hören, kam am Stock, kam über den Stein, hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre, er ging also, das war zu hören, ging eines Abends, da einiges untergegangen war, ging unterm Gewölk, ging im Schatten, dem eignen und dem fremden — denn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt wär, ausgeliehen und nicht zurückgegeben —, da ging er also und kam, kam daher auf der Straße, der schönen, der unvergleichlichen, ging, wie Lenz, durchs Gebirg, er, den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud, kam und kam .« (Paul Celan, Gespräch im Gebirg)

 

So beginnt der bekannteste und schon zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Prosatext Paul Celans, der im August 1959 geschrieben zuerst 1960 im zweiten Heft der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde (199-202). Der Titel: »Gespräch im Gebirg«. Der Anlass: Ein geplantes und dann ausgefallenes (versäumtes) Gespräch zwischen Paul Celan und Theodor W. Adorno, dessen Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch, das Gegenprogramm zu Celans Dichtung zu sein schien.

 

Zur Person Paul Celan brauche ich vermutlich nicht viel zu sagen: In dieses Jahr 2020 fällt sein 50. Todestag und im November wäre er 100 Jahre alt geworden. Mit 50 Jahren, Ende April 1970, setzte er seinem Leben und Sprechen das Ende. Er, ein jüdischer Dichter deutscher Sprache, wollte sich als österreichischer Dichter verstanden wissen, weil seine Heimatstadt Czernowitz, heute in der Ukraine gelegen, ursprünglich zur Habsburger Monarchie gehörte und sich bis zum Einbruch der faschistischen Barbarei als Klein Wien verstand und weil die deutsche Sprache im Wortsinn seine Muttersprache oder besser seiner Mutter Sprache war.

 

In der germanistischen Literaturwissenschaft wird heute fast mehr über die Rezeption seiner Dichtung in Deutschland als über seine Texte selbst gesprochen. Allein in diesem Jahr sind zu diesem Thema vier Bücher erschienen. Umso wichtiger scheint es mir, gegenwärtig die Dichtung Celans selbst anzuschauen und den darin verzeichneten Erinnerungen und Daten nachzugehen. Mir liegt daran nicht der Texte wegen, sondern um unserer selbst willen, um das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft zu stärken, da die letzten Zeugen der Nazi-Barbarei sterben und sich gesellschaftlich die Meinung verbreitert, dass es nun endlich mit dem Eingedenken genug sei.

 

Um aber nun doch auch eine Bemerkung zur Rezeption dieses Textes, also der Erzählung. zu machen: Einer seiner frühen Leser war jener deutsche Schriftsteller, der einen seiner bekanntesten Romane mit dem Satz begonnen hat: »Ilsebill salzte nach.«, einer der schönsten Romananfänge, die es in der deutschen Literatur gibt. Gemeint ist Günter Grass. Er las diesen Text anlässlich eines Besuches bei Celan, beide lebten zu der Zeit in Paris, und konnte überhaupt nichts mit dieser Art des Schreibens anfangen.

 

Zum Text selbst: Das Zitat ist der erste Satz dieser nicht einmal vier Seiten umfassenden Erzählung von Paul Celan. In diesem Satz finden sich viele Themen der Celanschen Dichtung angesprochen und er ist so etwas wie die Ouvertüre der gesamten Erzählung: Viermal wird das Wort »Jude« bzw. »Jud« ausgesprochen. Um Jüdisches also soll es gehen in dieser Geschichte, die ein Gespräch abbildet, das hätte stattfinden können zwischen zwei Juden: Celan und Adorno, an einem Ort im Engadin, Sils Maria, der auch für Nietzsche und die Entwicklung seiner Idee des Zarathustra steht. 

 

Vom Untergang ist die Rede, denn nicht nur die Sonne ist untergegangen; vom Ende also, nicht nur des Tages. Genau dies ist eines der grundlegenden gerade der frühen und mittleren Dichtung Celans: Das »Spät und tief« in der Geschichte stehen, das Herbstliche oder Abendliche, auf das nach solchem Untergang kein schlichter neuer Morgen aufscheinen dürfte, sondern etwas ganz Anderes: »Spät und tief« - dieses frühe Gedicht Celans endet in seiner ersten Fassung »Es komme der Mensch mit der Nelke.« und in der endgültigen letzten Fassung »Es komme ein Mensch aus dem Grabe.« Revolution (die rote Nelke des Sozialismus) war die Hoffnung am Anfang und nach deren Desavouierung schon in den Endvierzigern des letzten Jahrhunderts blieb die Hoffnung auf Auferstehung des Menschen, eine Hoffnung, die für Celan unter die »Majestät des Absurden« fällt, die zum Menschsein gehören muss wie zur Dichtung (Büchnerpreisrede).

 

Geschrieben ist die gesamte Erzählung in einer Sprache, die fremd anmutet. Geschrieben ist sie in der Melodie eines jüdischen Deutsch, das längst aus unserem Alltag verschwunden ist, besser vertrieben wurde. So nimmt auch der Stil das Jüdische noch einmal auf, um das es in der ganzen Erzählung geht. Das hat mit Stock und Stein zu tun, mit Unwegsamem also, wobei hier Stock und Stein auseinandergenommen sind und miteinander in Gespräch kommen werden.

 

Es kommt der »Name« ins Spiel, mit dem der Jud dahergeht. Natürlich, wird man sagen, kommt der Name mit, wie soll auch jemand ohne Namen durch die Welt gehen. Nur ist es hier der «unaussprechliche« Name, der nicht wegen seiner zungenbrecherischen Lautung unaussprechlich ist, sondern weil es sich um Ha Schem handelt, den einen großen Namen, der nicht ausgesprochen werden darf im Judentum, der Juden und Jüdisches begleitet, gleichgültig, ob es sich um religiöse Juden wie Nelly Sachs oder agnostische wie Paul Celan handelt. Auch dieser Name wird wieder auftauchen in der Geschichte als »Niemand«, so, wie er in der »Niemandsrose« angesprochen wird.

 

Leise Ironie ist diesem Text ebenfalls eigen, nicht allein in der jüdischen Sprachmelodie, sondern auch in der Klischierung des Judentums: Der Jude borgt sich und gibt nicht zurück. Historisch war es meist umgekehrt: Man lieh sich beim Juden Geld, weil sie die einzigen waren, die Kredit geben durften auf Zinsen. Und im Zweifelsfall gab man es eben nicht zurück, weil Kreditvergabe ja unmoralisch war, da biblisch verboten.

Fast jedes Wort dieses Anfangs ließe sich so weiterverfolgen. Hier sei bloß noch auf ein Motiv hingewiesen. Der Jud geht »wie Lenz« durchs Gebirg: Der Anfang der Lenz-Erzählung von Georg Büchner wird hier aufgenommen: «Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.« So beginnt dieses Prosastück, auch das ein besonderer Anfang. Und es endet mit einem Gedankenstrich: »So lebte er hin -«.

 

Allerdings kommt mit Lenz der 20. Jänner, also der 20 Januar ins Gespräch, ein Datum, auf das Celan auch sonst hinweist. Es geht dabei nicht mehr um einen 20. Januar des 19., sondern um einen des 20. Jahrhunderts:

Auf der Wannseekonferenz kamen am 20. Januar 1942 in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin fünfzehn hochrangige Vertreter der nationalsozialistischen Reichsregierung und SS-Behörden zusammen, um unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in seiner Funktion als Chef der Sicherheitspolizei und des SD den begonnenen Holocaust an den Juden im Detail zu organisieren und die Zusammenarbeit der beteiligten Instanzen zu koordinieren. (Wikipedia, Abruf 5.10.20)

Immer wieder macht Celan darauf aufmerksam, dass sich alle seine Gedichte von einem Datum herleiten. Datum ist hier nicht im Sinne bloßer Zeitangabe verstanden, sondern als Ereignis, als Katastrophe, als Element oder Vorzeichen jenes geschichtlichen Bruchs, dessen eingedenk zu sein (ein Wort Walter Benjamins) die Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt noch gesprochen werden kann.

Gleichzeitig wird auch auf die Lenzerzählung und deren Protagonisten verwiesen, von dem es bei Büchner heißt: »Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte…«. In seiner wenig später geschriebenen Büchnerpreisrede (Der Meridian 1960) merkt Celan dazu an: »Wer auf dem Kopf geht…, hat den Himmel als Abgrund unter sich.« Auch damit wieder ist Ha Schem angesprochen, der, nach allem was geschehen ist, nun Transzendenz als Abgrund meint: Niemand.

 

Wir werden noch sehen, dass Celan sehr genau benennt, was alles auf diesem Weg ins Gebirg, an dieser Stelle, zu sehen ist an Blumen und Gesteinsformationen, was zu hören ist, genaue Wahrnehmung also. Aber darum geht es nicht. Vielmehr begeben sich der Jud und und sein imaginärer Gegenpart auf einen Weg in die Sprache: Der Text selbst ist der Weg, der hier zurückgelegt wird. Überhaupt gibt es eine große Nähe zu einem anderen großen Text Celans, der «Engführung« nämlich, jenem Gedicht, das das Ende von »Sprachgitter« darstellt und schon vom Namen her Bezug nimmt auf ein anderes bekanntes Gedicht, das Celan seit Mitte der Fünfzigerjahre niemals mehr gelesen hat: zur »Todesfuge«.

 

»Engführung« ist auch eine Anweisung darauf, wie Celan seine Gedichte gelesen haben möchte, eben auch die Todesfuge, der eine überreiche Metaphorik attestiert wurde. Bloß sind die Metaphern auch dort keine Metaphern sondern Angabe von Daten und Ereignissen, teilweise fast im Zitat. Der Anfang des Gedichtes lautet:

 

VERBRACHT ins
Gelände
 mit der untrüglichen Spur:

 

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
 Schau nicht mehr – geh!

 

»Verbracht« - ein Wort aus dem Vokabular des Unmenschen – gilt hier dem Leser, der Leserin. Wer dies liest, findet sich unversehens in einem Gelände. In diesem Gelände gibt es eine Spur, der es zu folgen gilt. Das Gras ist auseinandergeschrieben, Steine gibt es auch hier, weiße Steine, Schatten von Halmen darauf: Das ist Text.

 

Nun wird ein Text normalerweise gelesen. Das Lesen gilt den Worten und Sätzen, die dastehen. Genau das will das Gedicht nicht: Dieser Text soll nicht gelesen werden, sondern geschaut. Allerdings landet man beim Schauen bei den Bildern, bei den Metaphern also und bleibt daran hängen. Sind allerdings die Bilder keine Bilder, sondern reale Daten, dann gilt auch das Schauen nicht mehr, dann, so sagt es das Gedicht, heißt es: Gehen. 

 

Genau so sollen die Gedichte Celans gelesen oder besser gegangen werden: Als Weg durch ein Gelände, das immer eine »untrügliche Spur« aufweist. Und genauso ist es auch im »Gespräch im Gebirg«.

 

Und wer, denkst du, kam ihm entgegen? Entgegen kam ihm sein Vetter, sein Vetter und Geschwisterkind, der um ein Viertel Judenleben ältre, groß kam er daher, kam, auch er, in dem Schatten, dem geborgten — denn welcher, so frag und frag ich, kommt, da Gott ihn hat einen Juden sein lassen, daher mit Eignem? —, kam, kam groß, kam dem andern entgegen, Groß kam auf Klein zu, und Klein, der Jude, hieß seinen Stock schweigen vor dem Stock des Juden Groß.

So schwieg auch der Stein, und es war still im Gebirg, wo sie gingen, der und jener.

Still wars also, still dort oben im Gebirg. Nicht lang wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ists bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg. Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch, auch heute, auch hier.

 

In seiner Bremer Rede (1958) macht Celan auf das Dialogische von Sprache und Dichtung aufmerksam. In vielen seiner Gedichte ist das Du entscheidend, ein Du, das changiert zwischen Ansprache der Lesenden, Selbstansprache des Sprechenden und der Ausrichtung auf ein anderes Du. So auch in dieser Erzählung, die sich ausdrücklich Gespräch nennt.

 

Es kommt also zu einer Begegnung zwischen dem Juden Groß und dem Juden Klein, Groß steht für den 17 Jahre älteren Adorno (geb. 1903), Klein für Celan. Zugleich, das wissen wir inzwischen, sind beide einer, das Gespräch ist eine Imagination, Dichtung also, und als solche bleibt es eben doch Gespräch.

 

Auch hier wird wieder mit Zuschreibungen gearbeitet: Der Jude versteht nichts von der Natur, alle Wahrnehmung läuft ihm durch die Interpretation, die von Geschichte bestimmt ist. Dabei war Celan selbst ein ausgezeichneter Naturkenner, vor allem in der Botanik beheimatet. Und die Nennung all der Blumennamen macht darauf auch aufmerksam. Allerdings geht es tatsächlich nicht um »die Natur«. Es geht um den Menschen, seine Geschichte und vor allem um die jüdische Katastrophe. Wo immer bei Celan Natur vorkommt, steht sie im Bezug zu dem, als Natur selbst, als Stein, Blume oder Erde, als Felsformation oder Gebirge sagt die Natur nichts. Stock und Stein mögen sprechen, sie werden vom Menschen zum Sprechen gebracht. Die Sprache der Natur aber bleibt unverständlich und selbst das berühmte Gespräch über Bäume ist, wie Brecht sagt, fast ein Verbrechen (An die Nachgeborenen), weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließe.

 

Celan selbst verschärft das Brechtsche Diktum noch einmal in einem späten Gedicht (Schneepart), das er Bertold Brecht widmet:

 

EIN BLATT, baumlos
 für Bertold Brecht

 

Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es so viel Gesagtes
 mit einschließt.

 

Wo Brecht sich gegen eine allzu freundliche Naturlyrik wendet, die glaubt, immer noch in der Natur Bilder für den Menschen zu finden, da wird für Celan die Sprache selbst, die als Gespräch angelegt ist, problematisch, und zwar nicht aufgrund des Geschehens oder der Geschichte, sondern wegen dessen, was in ihr schon alles gesagt wurde.

 

Und dennoch spricht das Gedicht, allerdings anders als es Gedichte bis dahin zu tun pflegten. Und dennoch scheint ein »Gespräch im Gebirg« möglich, scheint es etwas zu erzählen zu geben, übrigens über etwas, das eben nicht stattgefunden hat.

 

Allerdings ist das mit dem Erzählen nicht so einfach: Auch wenn dieser Text beginnt wie eine Erzählung, sperrt er sich doch immer wieder dagegen. Der Anfang einer zugegebenermaßen nicht sonderlich guten Geschichte würde lauten: »Eines Abends, die Sonne war untergegangen, trat Klein aus seinem Haus.« Das aber steht da nicht. Der Erzählton wird immer wieder unterbrochen durch Einwürfe, Ergänzungen, Parataxen, Gedankenstriche, Erklärungen, all das also, was in einer Erzählung nichts zu suchen hat. Somit handelt es sich bei diesem Text um eine Erzählung, die keine sein will über ein Gespräch, das nicht stattgefunden hat. Soweit die äußeren Fakten.
 Und trotzdem ist es eine Erzählung über ein Gespräch, was hier vor uns liegt.

 

Genau diese Paradoxien, diese Sperrigkeit gehören zu Celans Stil und Sprache. Das teilweise fast paradoxe Sprechen und die Paradoxie sprachlichen Handelns insgesamt bei Celan sind sein Versuch, jene Sprache wiederzugewinnen, die die Sprache seiner Mutter war und die zugleich die Sprache der Mörder seiner Eltern ist. Hier aber spricht sich andere Sprache aus, die Sprache der Juden. Hören wir also, wie das Gespräch verläuft:

 

»Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher.. 

»Bin ich. Bin ich gekommen wie du.«

»Weiß ich.«

»Weißt du. Weißt du und siehst: Es hat sich die Erde gefaltet hier oben, hat sich gefaltet einmal und zweimal und dreimal, und hat sich aufgetan in der Mitte, und in der Mitte steht ein Wasser, und das Wasser ist grün, und das Grüne ist weiß, und das Weiße kommt von noch weiter oben, kommt von den Gletschern, man könnte, aber man solls nicht, sagen, das ist die Sprache, die hier gilt, das Grüne mit dem Weißen drin, eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich — denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht, und nicht für mich —, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.«

»Versteh ich, versteh ich. Bin ja gekommen von weit, bin ja gekommen wie du.«

»Weiß ich.«

»Weißt du und willst mich fragen: Und bist gekommen trotzdem, bist, trotzdem, gekommen hierher — warum und wozu?«

»Warum und wozu... Weil ich hab reden müssen vielleicht, zu mir oder zu dir, reden hab müssen mit dem Mund und mit der Zunge und nicht nur mit dem Stock. Denn zu wem redet er, der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein — zu wem redet der?«

»Zu wem, Geschwisterkind, soll er reden? Er redet nicht, er spricht, und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt er und nur er: Hörst du?«

 

Das von weit Hergekommensein zeichnet beide aus, die sich da begegnen. Und beide nehmen war, dass da etwas spricht, besser: dass sich dort im Gebirg etwas zeigt, das man als Sprache verstehen könnte. Aber man sollte es nicht, weil es nicht Sprache als Ansprache, sondern Sprache als unpersönlicher Ausdruck ist. Eine Sprache eben ohne Ich und ohne Du. Dass es dabei auch um das dreifach Gefaltete geht, das im Unpersönlichen verbleibt, ist einer der sperrigen Schlenker, die Celan macht. Um dann am Ende beim »Hörst du« zu landen.

 

Sprache, wenn sie wirklich Sprache sein will, ist an Begegnung geknüpft und damit eben Gespräch. Und auch das Sprechen braucht am Ende das Gegenüber, dem zugesprochen wird. Das Gespräch des Stockes mit dem Stein ist nicht ausreichend für das Menschsein oder für die Menschwerdung.  Der Stock ist durchaus nicht nur ein Stützinstrument: Er ist »langgestreckter und gerader, nicht zu dünner und nicht zu langer, handlicher Stab aus dem Zweig eines Baumes oder Busches, der meist als Stütze (beim Gehen), zum Schlagen oder Zeichengeben dient«. (DWDS Stock, Der deutsche Wortschatz von 1600 bis zur Gegenwart). Insofern redet der Stock tatsächlich. Anders steht es mit dem Stein. Der redet eben nicht. Eigentlich gehört er der Welt der Natur, der dritten Person an. Aber er spricht; er spricht wie das dreimal Gefaltete. Der Stein also redet nicht, er spricht – als Antwort auf den Stock.

 

Es folgt dem eine grundsätzliche Aussage zum Sprechen: Das Sprechen scheint sich in Leere zu richten.  Sprechen scheint so etwas wie Klage zu sein darüber, dass niemand hört. Sprechen scheint mehr noch eine Äußerung zu sein, weil niemand zuhört. In der Erzählung taucht dieses »niemand« zweimal auf, durch «und« verbunden: niemand und Niemand. Das klein geschriebene niemand meint wohl ein gleichartiges Du, das es nicht gibt. Der oder das groß geschriebene Niemand hingegen verweist auf eine größere Leere.

 

Das Gedicht, in dem Celan sich mit diesem Niemand am intensivsten auseinandersetzt, ist »Psalm«. Es ist das Titelgedicht des Bandes »Die Niemandrose«. In keinem anderen Gedichtband setzt sich Celan so ausdrücklich mit seinem Judentum auseinander. Unter anderem dürfte das mit seiner freundschaftlichen und poetischen Beziehung zu Nelly Sachs zu tun haben. Die Arbeit an den Gedichten dieses Bandes verlief zum Teil parallel zu der Entstehung des »Gespräch im Gebirg«. Das Gedicht «Psalm« entstand 1961.

 

Psalm

 

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,

niemand bespricht unsern Staub.

Niemand.

 

Gelobt seist du. Niemand.

Dir zulieb wollen

wir blühn.

Dir

entgegen.

 

Ein Nichts

 

waren wir, sind wir, werden

wir bleiben, blühend:

die Nichts-, die

Niemandsrose.

 

Mit

 

dem Griffel seelenhell,

dem Staubfaden himmelswüst,

der Krone rot

 

vom Purpurwort, das wir sangen

über, o über

dem Dorn.

 

Fünfmal kommt hier der groß geschriebene Niemand vor. Ihm korrespondiert das »Nichts« des sprechenden Wir. Dabei gibt es durchaus Ähnlichkeiten zur Erzählung: Der Stein, der spricht, weil Niemand ihn hört, spricht nicht mehr mit Zunge oder Mund, sondern er als ganzer spricht: » sagt er und nur er: Hörst du?« Und dieses »Hörst du?« wird – noch einmal wiederholt – zur Ansprache an Niemand und niemand. In »Psalm« ist all das sehr viel deutlicher gesagt: Der dort angesprochene Niemand ist allein vom Gestus des Gebetssprechens her ein Widerruf Gottes oder »des Herrn«.

 

Eine Celan bekannte, weil in der damaligen Ausgabe des Etymologischen Wörterbuches von Kluge angegebene Ableitung des Wortes Gott versteht das Wort als Partizip Perfekt Passiv: Das Angesprochene oder auch das Ansprechbare, aus dem unter jüdisch-christlichem Einfluss der Angesprochene/Ansprechbare wurde. Das Ansprechbare ist das »Hörst Du«.

 

In der Erzählung wird aus der Frage »Hörst du?« der Hörstdu:  »Und Hörstdu, gewiß, Hörstdu, der sagt nichts, der antwortet nicht…«. Der Hörstdu und der Niemand: Beide sind identisch.

Im Gedicht verschärft sich dieses Niemand noch einmal, weil die Ursache der Verwandlung von Gott, Herr zu Niemand in der Verwandlung des Wir zum Nichts seine Ursache hat:

 

Ein Nichts

 

waren wir, sind wir, werden

wir bleiben, blühend:

die Nichts-, die

Niemandsrose.

 

Das Eigenartige an beiden Texten ist, dass dieser Niemand eben doch angesprochen wird, obgleich es eigentlich unsinnig ist, mit niemandem zu sprechen: In der Erzählung gilt diesem Niemand das «Hörstdu«; und der »Psalm« ist ein vollständiges Gebet an diesen »Niemand«.

 

In seiner Darmstädter Büchnerpreisrede wird Celan deutlicher:

 

Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.

Aber ich denke – und dieser Gedanke kann Sie jetzt kaum überraschen –, ich denke, daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder – nein, dieses Wort kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen –, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.. (BPR 1960)

Dieses »wer weiß« ist allerdings eine sehr zaghafte und vorsichtige Aussage. Celan weist ausdrücklich drauf hin. In eines anderen Sache zu sprechen ist advokatorisches Sprechen, macht allerdings keine Aussage über das Dasein des anderen. Selbst in angesprochenen Niemand des Steins und des Psalms finden sich qua Ansprache Spuren alter Hoffnungsgeschichten. Noch einmal die Büchnerpreisrede:

 

Dieses »wer weiß«, zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen von mir aus auch heute und hier hinzuzufügen vermag.

Im Gedicht »Psalm« verdeutlicht sich das: Am Ende des Gedichts wird die Rosenblüte beschrieben, mit Griffel und Staubfäden und Krone. Der Griffel ist jedoch nicht nur Blütenbestandteil, sondern auch Schreibinstrument. Deswegen wird ihm die Eigenschaft »seelenhell« zugeschrieben. Der Staubfaden ist ebenfalls nicht nur Blütenbestandteil, sondern evoziert den unbesprochenen Staub vom Anfang des Gedichts, damit das »Vernichtetsein« des sprechenden Wir. Deshalb die Eigenschaft »himmelswüst«, die mit dem »Niemand« zu tun hat.

 

Und dennoch spricht das Gedicht von der roten Krone, die nicht blutrot, sondern purpurrot ist, die gefärbt ist von einem Wort, das das Wir sang. Das Lied heißt im Gedicht »über, o über« und weist damit auf jenes »ganz Andere«, jenseits des Dorns, in dessen Sache zu sprechen ist. Dabei geht es nicht um »das ganz Andere« selbst. Darüber sagt Celan in seinem Nelly-Sachs-Gedicht: »Wir wissen ja nicht, was gilt«. Es geht um den Menschen und sein Zu-sich-Kommen. Es geht um ein Über-hinaus, doch, wie die Büchnerpreisrede sagt, eingedenk der Daten.

 

Im Gedicht geht es um die Vernichtung »Israels«, der Juden also. In der Erzählung geht es um eine grundlegende Erfahrung des »Juden Klein«:

 

Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern, die wie ich waren, die andern, die anders waren als ich und genauso, die Geschwisterkinder; und sie lagen da und schliefen, schliefen und schliefen nicht, und sie träumten und träumten nicht, und sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer, und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht, ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten, ich liebte die Kerze, die da brannte, links im Winkel, ich liebte sie, weil sie herunterbrannte, nicht weil sie herunterbrannte, denn sie, das war ja seine Kerze, die Kerze, die er, der Vater unsrer Mütter angezündet hatte, weil an jenem Abend ein Tag begann, ein bestimmter, ein Tag, der der siebte war, der siebte, auf den der erste folgen sollte, der siebte und nicht der letzte, ich liebte, Geschwisterkind, nicht sie, ich liebte ihr Herunterbrennen, und, weißt du, ich habe nichts mehr geliebt seither; nichts, nein; oder vielleicht das, was da herunterbrannte wie jene Kerze an jenem Tag, am siebten und nicht am letzten; nicht am letzten, nein, denn da bin ich ja, hier, auf dieser Straße, von der sie sagen, daß sie schön ist, bin ich ja, hier, beim Türkenbund und bei der Rapunzel…

 

Der Dichtung Celans gilt immer noch der Vorwurf, sie sei hermetisch, also verschlossen oder doch zumindest dunkel und schwer verständlich. Fast immer aber sind es reale Anlässe, die zu Texten führen und konkrete Daten, an die sie erinnern. Dabei, darauf sei hier noch einmal hingewiesen, meint »Daten« bei Celan nicht ein nur bestimmtes Datum im Sinne des Kalenders und erst recht nicht das, was wir heute unter Daten zu verstehen pflegen. Es sind Ereignisse, Geschehnisse und Menschen, deren das Gedicht, der Text eingedenk bleibt.  Und tatsächlich trüben diese Daten das Gedicht ein. Dass Celans Sprache, wie er selbst in seiner Bremer Rede sagt, hindurch gehen musste durch die »tausend Finsternisse todbringender Rede«, mehr noch: dass sie Erinnerungen bewahren musste, für die sich kaum Worte hergaben.

 

Hier wird nun tatsächlich erzählt: Der Jude Klein erzählt von jenem Damals, das Ausgangspunkt aller Dichtung Celans ist: Diesmal ist es die Erinnerung an eine Situation im Lager im faschistischen Rumänien jener Zeit. Ein Arbeitslager, kein ausgesprochenes Vernichtungslager. Viele Juden, vor allem aus Czernowitz wurden in derartigen Lagern kaserniert und mussten Arbeitsdienste verrichten. So auch Celan. Die Beschreibung ist realistisch: Sie schliefen und schliefen nicht, sie träumten und träumten nicht… Sie lagen da. Solche Lager gab es einige.

 

Das der eine Sprechende die anderen die da lagen, obgleich sie doch »Geschwisterkinder« waren, nicht liebte, wie er gesteht, klingt aufs erste Hören grausam. Die Benennung der gequälten und ermordeten Juden als Opfer, die Benennung der Schoah als Holocaust rückt die Vernichtung und die ihr anheim Gefallenen in den Bereich des Sakralen, das dann natürlich auch moralisch aufgeladen ist. Nur ist diese sakrale Konnotation, also die Beschreibung der Vernichtung als »Ganzopfer«, solange grotesk falsch, wie sie von außen vorgenommen, also nicht Selbstinterpretation ist.

Die Gequälten, Gedemütigten oder Ermordeten bleiben eben Menschen, die sich lieben oder nicht lieben, so wie es eben Menschen tun. Und dennoch gibt es in dieser Situation einen sakral anmutenden Haltepunkt: Die Schabbat-Kerze.

 

Für Klein ist das Problematische der Schabbat-Kerze klar: Sie sagt zwar den siebten Tag an, aber auf diesen wird wieder ein erster folgen. Das Herunterbennen der Kerze dagegen hat etwas Endgültiges, Unwiderrufliches. Das ist es, was Klein liebte und fortan geliebt hat. Die Ereignisse jenes Damals scheinen jede erneute Wiederkehr eines ersten Tages, der ja auch als erster Tag der Schöpfung, also als Neuanfang memoriert wird, obsolet erscheinen.

Wenn überhaupt etwas nach einem siebten Tag kommen kann, dann jedenfalls kein erster. Es ist der Abend, von dem Celan redet, der Herbst, wie es in anderen Gedichten heißt. Nach allem an Ende der Zeit zu stehen, ist ein Merkmal Celanscher Dichtung, vor allem in der frühen und mittleren Phase. Gedichte wie z.B. »Spät und tief« (gemeint ist in der Geschichte) oder »Corona« (»Im Spiegel ist Sonntag«) sind Beispiele dafür.

 

Der Stein spricht, weil niemand ihn hört, hieß es etwas früher in der Erzählung. Warum redet jemand wie der Jude Klein in der Erzählung? Warum schreibt jemand Gedichte? Auch die Erzählung selbst geht ja den Weg der Dichtung – sogar mit einem Lenz-Hinweis. Sie fährt fort:

 

— ich hier, ich; ich, der ich dir all das sagen kann, sagen hätt können; der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab; ich mit dem Türkenbund links, ich mit der Rapunzel, ich mit der heruntergebrannten, der Kerze, ich mit dem Tag, ich mit den Tagen, ich hier und ich dort, ich, begleitet vielleicht — jetzt! — von der Liebe der Nichtgeliebten, ich auf dem Weg hier zu mir, oben.«

 

Eine Antwort mögen die letzten Worte des Textes geben: ich auf dem Weg hier zu mir, oben. Auch wenn das Prinzip Celanscher Dichtung dialogisch ist, auch wenn seine Gedichte, wie er in seiner Bremer Rede sagt, eine Flaschenpost sind, aufgegeben in dem gewiss nicht immer hoffnungsstarken Glauben, dass sie an Land stoßen möchten, an Herzland vielleicht, sie sind gleichzeitig auch Wege des Ich zu sich selbst. Celan weist in seinen Briefen verschiedentlich darauf hin.

 

Das letzte Wort, durch ein Komma abgeteilt, lautet »oben«. Es steht dem Anfang des Textes gegenüber, in dem es heißt: »er, den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud, kam und kam«. Jetzt hingegen – nach all dem Gesagten, heißt es: »hier bin ich ja, hier auf dem Weg zu mir«. Also noch nicht ganz angekommen. Aber oben. Insofern erzählt uns die Geschichte den Weg der Dichtung, der kein Ausweg ist, sondern ein Weg der Selbstbegegnung.

 

Viele Gedichte Celans gehen diesen Weg: Der eben angesprochene »Psalm« gehört auch dazu. Von Niemand und Nichts ist die Rede zu Beginn, am Ende hingegen von Königlichem: Krone, Purpurwort und von Überwindung: »über, o über/dem Dorn«. In beiden Texten geht der Weg über die Reminiszenz des »ganz Anderen« als Negation (niemand und Niemand in der Geschichte; Niemand-Anrede im Gedicht). An zwei Gedichten aus dem Spätwerk (Lichtzwang) lässt sich die Entwicklung in Celans Dichtung zeigen. Beide Gedichte haben mit Meister Eckhart zu tun, mit dessen Predigten sich Celan auseinandergesetzt hat. Und sie hängen wohl auch (nicht nur von der Platzierung im Gedichtband her) zusammen.

 

Treckschutenzeit,
die Halbverwandelten schleppen
 an einer der Welten

 

Der Enthöhte, geinnigt,
 spricht unter den Stirnen am Ufer:

 

Todes quitt, Gottes
 quitt.

 

Während man in früheren Gedichten wie etwa der bekannten »Todesfuge« oder »Spät und tief« (Mühlen des Todes) immer noch meinen konnte, es mit Metaphern zu tun zu haben (in Wirklichkeit handelt es sich meist um Zitate), findet sich in diesem Text nichts mehr, das auch nur von weitem an eine Metapher erinnert. Und obwohl das Gedicht bis auf ein Wort lauter einigermaßen verständliche Worte enthält, bringt es zumindest beim ersten Lesen erhebliche Verstehensschwierigkeiten mit sich.

Nun sind Gedichte keine Kreuzworträtsel für Intellektuelle, die sich einfach lösen ließen. Ihre Art der Aussage unterscheidet sich auch von Argumentationen oder Informationen. Wer ein Gedicht liest, wird am Ende stets sein eigenes Gedicht gelesen haben. Das »Herzland« jedes Menschen unterscheidet sich eben und geht mit dem Gelesenen zu einem ganz eigenen Verstehen zusammen.

 Dennoch ist es notwendig, die einzelnen Worte zuvor zu verstehen. Das nämlich heißt »Lesen«.

 

Celan hat Wörter und Sinnzusammenhänge gesammelt bzw. notiert. Sie tauchen dann oft anders zugeordnet und neu verbunden in seinen Texten wieder auf. Deswegen hier zunächst ein paar Hinweise zu eher fremden Wörtern:

 

Treckschute: Das Wort kommt wohl ursprünglich aus dem Friesischen/Niederländischen und bezeichnet dort ein Holzboot, das auf Fluss, Kanal, Gracht gezogen wurde, meist von Pferden oder Ochsen, bisweilen auch von Menschen. In den Niederlanden gab es bereits im 18./19. Jahrhundert regelmäßigen Verkehr mit Treckschuten zwischen Rotterdam über Delft nach Den Haag (ca. 16 x pro Tag). Eine Treckschute beförderte als Personenboot etwa 40 Menschen. Allerdings gab es genauso auch Frachtschuten. Im Übrigen sind noch heute an vielen Flüssen und Kanälen sogenannte Treidelpfade zu sehen: Wege, auf denen die Tiere oder Menschen liefen, die die Schiffe stromaufwärts schleppten.

Bei Celan wird nun das Wort Treckschute mit dem Wort Zeit zusammengebracht. Das kann zweierlei bedeuten: zum einen die Zeit als Treckschute, zum andern die Zeit der Treckschuten. Das Gedicht löst das Wort gleich ein: Auch hier wird geschleppt. Allerdings nicht an Schiffen oder Booten, sondern an »einer der Welten«. Die Halbverwandelten sind noch nicht vollständig verwandelt und die Welt ist noch nicht da angekommen, wo sie hinsoll.

Die folgenden Zeilen sind durch Zitatwörter gekennzeichnet: Enthöht, geinngt, Gottes quitt. Sie stammen aus der Predigt Meister Eckharts »Beati pauperes spiritu, quia ipsorum es regnum coelorum«. M.E. macht in dieser Predigt darauf aufmerksam, dass es nicht darum gehen könne, dass der Mensch zu Gott erhöht werde, sondern dass Gott »enthoget«, also enthöht werden solle, in den Menschen hinein und »geinniget werden müsse. Dahinter steckt die mystische Vorstellung, dass Gott zwar einmal Mensch geworden sei, aber in jedem Menschen wieder Mensch werden solle.

Es folgt dann bei Meister Eckhart die Bitte: »Darumbe so bitte ich Gott, dass er mich ledic mache Gottes«. So in der historisch-kritischen Ausgabe bei Joseph Quint. In der älteren Ausgabe von Pfeiffer heißt es: dass er mich quitt mache Gottes. Diese Ausgabe wird offensichtlich in Nhd. bei Gustav Landauer zitiert: «Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache« (Landauer s. Wiedemann-Kommentar).

 

Celan hat also bei Mester Eckhart, dessen Quint-Ausgabe er kannte ebenso wie das Landauer-Buch, Worte gefunden, die in angesprungen sind und die er hier nun in seinen Wortkosmos einfügt. Er führt mit diesen Worten einen Gedanken fort, den er bereits im Band »Mohn und Gedächtnis« im Gedicht »Spät und tief« begonnen hatte. Dort heißt es angesichts der Schrecken der Endzeit und der Verlogenheit der Sprache falscher Prophetie:


es komme das gurgelnde Meer,
der geharnischte Windstoß der Umkehr,
der mitternächtige Tag,
 es komme, was niemals noch war! 

Es komme ein Mensch aus dem Grabe. 

Auch in diesem Gedicht muss sich angesichts der drängenden Zeit die Welt verändern (gurgelndes Meer, mitternächtiger Tag). In »Treckschutenzeit« wird sie geschleppt. Auch in »Spät und Tief« geht es um die Aufhebung des Todes durch Auferstehung des Menschen, wenigstens eines Menschen. In »Treckschutenzeit« heißt es »Todes quitt«. Dieses Gedicht weist also darauf hin, dass jene Welt, wenn die Halbverwandelten mit ihr in der vollständigen Verwandlung angekommen sein werden, eine Welt sein wird, in der sie, die Menschen, den Tod los sein werden.

Noch allerdings herrscht Treckschutenzeit, eine Zeit, in der schon vom Wort her Beschwernis mitschwingt. Und gleichzeitig scheint etwas in Gang gekommen zu sein (vgl. Corona: Es ist Zeit, dass es Zeit wird.) zumindest als Notwendigkeit oder Gespürtes.

Die Stirnen am Ufer weisen auf die, die immer noch schleppen, auf das Unangekommene. Aber das Sprechen unter den Stirnen ist kein Ruf von außen. Es findet Sprechen, wie im Gespräch im Gebirg, inwendig statt. Aber auch dieses Gedicht spricht mit dem geinnigten Enthöhten in eines »ganz Anderen Sache« (BPR), nicht um des ganz Anderen, sondern um des Menschen willen, für seine Befreiung vom Tod. »Gottes quitt« im Sinne Meister Eckharts, das geht für Celan erst mit der Aufhebung des Todes.

 

Das folgende Gedicht folgt auch im Band »Lichtzwang« unmittelbar auf »Treckschutenzeit«. Auch dieses Gedicht bezieht sich auf eine Predigt Meister Eckharts, auf »Surge illuminare, Jherosalem.

 

Du sei wie du, immer.

Stant up Jherosalem inde
 erheyff dich

Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin,

inde wirt
 erluchtet

knüpfte es neu, in der Gehugnis,

Schlammbrocken schluckt ich, im Turm, 

Sprache, Finster-Lisene,

kumi
 ori.

»Ich auf dem Weg hier zu mir« endet das »Gespräch im Gebirg«. Dieses Gedicht beginnt: »Du sei wie du«. Du, wer, ich, du: Diese Personalpronomen (wenn man »wer« so verstehen darf) tauchen im Gedicht auf.

 

Wem die anredende Aufforderung am Anfang des Gedichtes gilt, bleibt zunächst offen. Es folgt ein Satz, kursiv geschrieben, in einer fremd wirkenden Sprache, mittelhochdeutsch nämlich. Dieser Satz ist ein wörtliches Zitat aus der genannten Predigt Meister Eckharts, seine Übersetzung des lateinischen Titels: Steh Jerusalem und erhebe dich. Das lateinische »Surge« über setzt Meister Eckhart doppelt; Steh auf, erhebe dich.

Dem folgt wieder ein normaler Satz: »Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin«, und dieser Satz zerschneidet tatsächlich etwas, die gesamte Eckhart-Übersetzung in Mittelhochdeutsch, die ja nichts anderes als die Übersetzung des Jesaja 60-Verses ist, einer prophetischen Aufforderung also. Es folgt wiederum Mittelhochdeutsches: Die Fortsetzung des Jesaja-Zitates »inde wird erluchtet« ( und werde erleuchtet/licht).

 

Also zerschneidet gegenwärtiges Sprechen hier tatsächlich ältersprachliche Verheißung; aber diese soll neu geknüpft sein. Das Band wird also wieder erstellt: »Knüpfte es neu«. Das nun folgende Wort kommt daher und ist geschrieben wie ein Wort unserer Sprache. Dennoch bleibt es unverständlich. Es findet sich auch nicht im Duden.

Auch dieses Wort wird von M.E. gebraucht: Gehochnysse heißt es bei ihm, eine menschliche Fähigkeit, die sich am besten mit dem Benjaminschen Eingedenken oder mit Erinnerung übersetzen lässt. Im Eingedenken also, das vieles umfasst, wird ein Band neu geknüpft (also nicht das alte wiederhergestellt) zu jenem Du, das nichts anderes sein kann als jenes Jerusalem, dem die Jesaja-Verheißung gilt. Das wird im Eingedenken wach, aber eben auch anderes:

 

Schlammbrocken schluckt ich, im Turm, 

Sprache, Finster-Lisene,

Auch diesem Gedicht geht es um Sprache: Es folgt ihr durch Hunderte von Jahren. Und es geht im um die Erinnerung der Leidensgeschichte, auch des sprechenden Ich: Es ist ja inzwischen nicht mehr nur die Sprache »goldener Rede«, die Sprache der Mörder seiner Eltern, mit denen der Sprechende konfrontiert ist, es ist auch die gegenwärtige (1967) Sprache, mit verlogenen oder unmenschlichen Zukunftsvisionen, mit Texten, die zum Teil von alten Nazis produziert wurden, und mit neuen Antisemitismen, wie sie etwa in der Goll-Affäre aufbrachen, eine Sprache zum Verrückt-Werden. 

Das sind jene Schlammbrocken, die das Ich schluckte; »im Turm« verweist auf Hölderlin, der womöglich an enttäuschter Zukunftsvision verrückt geworden ist und die längste Zeit seines Lebens im Tübinger Turm verbrachte. Es geht also um Sprache, die die nicht nur Dunkles, die Finsteres an sich hat:

 

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
 Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
 Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

                                                                     B.B. An die Nachgeborenen

 

Aber diese finster gewordene Sprache lenkt zugleich den Blick als Lisene, strukturiert also und weist den Augen ein Oben und Unten zu. Eine Sprache also, die durch die Zeit, durch die Jahrhunderte hindurchgeht:

 

Erreichbar, nah und unverloren, blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.
 Sie die Sprache blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber die ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, »angereichert« von all dem.

 

Diese Sätze aus der Bremer Rede erläutern die Finsternisse einer Sprache, die trotzdem wieder »zutage« tritt. Und diese Sprache trifft am Ende auf zwei Wörter, die älter sind als alle bisher gesprochenen, die der prophetischen Tradition Israels, des Judentums angehören:

 

Kumi
 ori.

Das ist der hebräische Urtext des Jesaja-Verses: Erhebe dich, werde licht, surge illuminare.

 

Dieses Gedicht erzählt vielleicht noch mehr eine Geschichte als die Erzählung »Gespräch im Gebirg«. Beide Texte haben ganz offensichtlich mit dem jüdischen Hintergrund ihres Autors zu tun. Während es in der Geschichte eher um Fragen jüdischer Identität geht, wird hier die Bedeutung jüdischer Tradition angesprochen, vor allem eben die jüdische Hoffnungstradition, die durch die Schoah auf immer der Vernichtung anheimgefallen schien.

 

Übrigens gilt zwar die Jesaja-Verheißung Jerusalem, aber der Name findet sich dort nicht, sondern nur die Anrede:

 

Erhebe dich und leuchte; denn gekommen ist dein Licht und die Herrlichkeit des HErrn erstrahlt über dir. Denn siehe: die Finsternis bedeckt das Land und Dunkelheit die Völker. Doch dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit wird an dir sichtbar. Jes 60, 1-2 (Übers. MK)

 

Entscheidend an den Zitaten der Tradition scheint zu sein, was nicht zitiert wird: Je weiter durch die Zeit die Sprache geht, umso unklarer scheint zu werden, wer »Du« ist. Im Mittelhochdeutschen wird Jherosalem, wenn auch fremd geschrieben und zu hören, noch genannt. Im hebräischen Text kommt es nicht vor. Weggelassen wird aber auch alles, was sich auf »den Herrn« bezieht. 

So bleibt hier offen und wohl auch bewusst doppeldeutig, inwieweit das Du Selbstanrede ist oder inwieweit es Jerusalem als dem Königsort des Judentums gilt. Offen bleibt auch, ob am Ende ein ganz anderer Königsort gemeint ist: An das Wort der Büchnerschen Leonce auf dem Blutgerüst »Es lebe der König!« schließt Celan in seiner Büchnerpreisrede an: »Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden.«

 

 

Zum Schluss

 

Aufbruch oder Ausbruch ist der Titel der diesjährigen Ludwigsburger Wortwelten. Celans Dichtung scheint mir Beides zu sein: Sie ist ein immer wieder versuchter Ausbruch aus einer Sprache, die kontaminiert ist mit dem Vokabular und mit den Verheißungen des Unmenschen, einer Sprache, die bis heute Elemente einer Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer) enthält, einer Sprache, die zum Teil wieder gesellschaftsfähig wird.

Sie ist der Versuch, in diese Sprache das Eingedenken an die Umgekommenen und Ermordeten einzulagern. Das meint der Begriff des »Angereichert« aus der Bremer Rede. An anderer Stelle (Eine Sprache des Leidens) habe ich geschrieben: Celans Gedichte seien die Steine auf den Gräbern der Vernichteten, nicht die Grabsteine, sondern jene Erinnerungssteine, die Juden ihren Toten aufs Grab legen.

 

Vor allem aber ist Celans Dichtung ein Aufbruch mit utopischem Ziel, darin dem nicht unähnlich, was Bloch unter Tendenz und Latenz versteht. Gleichzeitig bezweifelt diese Dichtung immer wieder die mögliche Realität einer solchen Zukunft. Darin, so scheint mir, zeigt sich die Humanität dieser Dichtung.

 

Es ist eine Dichtung, die wieder zu lesen, heute umso wichtiger wird, wie unsere Zeit und die Menschen im Land vergesslich werden zu wollen scheinen.