Im Garten der Geschichten

1. Was Prosa will und was sie mit der Religion verbindet

Wer erzählt, konstruiert. Erzählen hat nicht zufällig das Wort »Zählen« in sich: Erzählen heißt: Ordnung schaffen, etwas auf die Reihe bringen. Das geht im Leben selten, dafür ist die Literatur da. Um das zu können, muss die Autorin ihre Personen gut kennen, selbst wenn sie dann immer mal wieder von ihnen überrascht wird.

Es waren tatsächlich zwei Autorinnen, die genau das gesagt haben: Sybille Lewitscharoff und Susann Pasztor. Erzählen ist keine vollkommen gesteuerte Handlung, sondern Erzählen lebt vom Impuls und der Reaktion der Sprache auf diesen Impuls. Das heißt aber nicht, dass die Autorin oder der Dichter in einer Person aufgeht. Er oder sie ist nicht das, was in den Texten steht. Schreibende brauchen Verfügung über das, was sie schreiben. Auch wenn sich das Geschriebene und das Schreiben dann bisweilen verselbständigt. Das unterscheidet Literatur von Kitsch. Romane und Erzählungen lasse sich nicht durchplanen. Anders sieht es in vielen Unterhaltungsliteratur genannten Texten aus: Da stirbt dann durch einen Autounfall die gar nicht so böse Stiefmutter genau an dem Baum, den einst der Vater für die wirkliche Mutter gepflanzt hatte, und genau an diesem Baum treffen sich Sohn und wirkliche Mutter wieder und erkennen sich auch. Da hilft nicht einmal ein hoher Stil weiter. Damit ist die Geschichte als gewollt enttarnt. Und dennoch gibt es im realen Leben unter Umständen genau diesen Ablauf.

Susann Pasztor hat mir erzählt, dass sie den Roman über ihren Vater (»Ein wunderbarer Lügner«) nie der Realität entlang erzählen konnte, weil das niemand als real habe nachvollziehen können. Zu wunderbar und wunderlich wäre die Geschichte geworden.

Erzählen schafft Ordnung, hieß es eben. Gegenwärtiges Erzählen provoziert bisweilen eher Unordnung, weil Menschen ihr eigenes Leben eben auch nicht als Ordnung empfinden, sondern als katastrophal, als fragmentiert und nur in seltenen Fällen als geglückt und in sich stimmig. In früheren Zeiten mögen Menschen ihr Leben auch nicht als stimmig erfahren haben. Sie wussten aber, dass es stimmig ist und damit sinnvoll.

Literatur, gerade auch Prosaliteratur, ist also immer etwas Gemachtes, hat etwas Artifizielles an sich. Darauf weist Thomas Bernhard in seinem Gespräch mit Peter Hamm hin, das bereits in den 70er Jahren geführt, 2011 veröffentlicht wurde.

Dennoch besteht das Spiel erzählender Literatur immer darin, Geschichten zu erzählen, in denen es Zusammenhänge, manchmal sogar Kausalitäten gibt. Natürlich sind Brüche im Zusammenhangsgefüge möglich, sogar notwendig. Denn wer liest, soll ein zumindest begrenzten Wiedererkennungsmoment haben. In jedem erzählenden Text gibt es Momente, die die Lesenden kennen und die sie dazu bringen zu sagen: Das stimmt. Das gilt genauso auch für Kindergeschichten. Geschichten dürfen alles Mögliche, sie dürfen phantastisch sein und verrückt. Es darf nur nie ganz beiläufig etwas drinstehen, das Lesende sagen lässt: Das kenne ich. Und so kann es nicht sein. Besser ist es, Erkennungssituationen zu schaffen, die den Lesenden deutlich machen: Wer da schreibt, hat Ahnung von der Sache, um die es hier geht. Lesen, wenn es wirken soll, braucht das Vertrauen des Lesenden in das Buch.

Dass Menschen solche Texte lesen, immer noch lesen, ist Ausdruck einer Suche nach Lebenssinn. Dass ich beim Lesen einer Geschichte deren Sinn verstehe, bringt mich dazu, auch in meinem Leben zu lesen und dort den Sinn zu suchen. Lesen wird also zu einer neuen Form des Weltverstehens. Es zeigt den Wunsch oder die Sehnsucht, dass doch bitte nicht alles kontingent sein möge. Es steckt der Wunsch dahinter, dass es sogar mit dem Tod noch etwas Sinnvolles auf sich habe oder dass man ihn abwehren könne.

Als nun Adam auf dem Felde baute, von dem er genommen war, wurde er traurig, und Eva, voll Mitleid, forschte nach seinem Kummer. Adam sagte: »Siehst du die Cherubim nicht mit ihren hauenden blanken Schwertern, dass sie den Weg uns verwehren zum Baume des Lebens? Siehe, ich lebe und begehre das Leben, aber der Herr hat gesagt, ich bin Erde und soll wieder zur Erde.« Eva wusste Rat:
»Geh und mach ein Zeichen dem Herrn, dass er unseren Wunsch erkenne und erhöre.« Da brach Adam vom Fels einen Stein und beschlug ihn und meißelte Zei­chen seines Wunsches hinein; im Schweiße seines Angesichtes wurde ihm hierfür von oben die Gabe der Schrift verliehen, die er in seiner Not selbst erfunden zu haben glaubte. Adam zeigte Eva den Stein, sie lobte ihn, und Adam schleuderte ihn gegen die Richtung, wo die Cherubim standen. Vom Glanz ihrer Augen und Schwertspitzen wurde Adam geblendet, dass er nicht sah, wo der Stein zu Boden fiel. Auch war ein solches Sausen in der Luft, dass er nicht hörte, wann der Stein sein Ziel erreichte.
Wieder war Adam traurig, und wieder sprach Eva ihm zu: »Siehe, du weißt nicht, was mit dem Stein geschehen ist. Fürchte dich nicht, behaue einen neuen Stein, gib ihm das Zeichen unseres Wunsches und schleudere wieder.« Adam tat, wie Eva ihm geheißen. Er tat es noch oft und tat es immer, wenn ihn die Trauer auf seinem Felde verzehrte. So hat Adam, der Legende nach, den Brief erfunden, und der erste Brief war ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies.

H.G. Adler 1989

Dieser kleine Ausschnitt aus einer von H.G. Adler (+ 1988) im Kontext seines Romans »Die unsichtbare Wand« erzählten Legende weiß sehr viel über menschliche Sehnsucht und wie sie zwar nicht erfüllt, wie aber damit umgegangen werden kann. Und zugleich weiß diese Geschichte etwas über Literatur.

Adam geht in diesem Text einer durchaus sinnvollen Handlung nach, die ihren Sinn in der Zukunft hat. Er bebaut sein Feld, er sorgt für Morgen vor. Aber das scheint nicht auszureichen. Adam ist traurig. Und in der Trauer fehlt es an Ordnung und auch an Sprache. Alles wird diffus und ist nicht mehr durchschaubar. Es braucht die Ansprache von außen, um die stumme Trauer zu durchbrechen (vgl. Sölle, Leiden und die drei Sprechformen im Leiden). Es braucht das Sprechen, Sprechen ist immer Gespräch, um handlungsfähig zu werden. Erst nach der Ansprache ist Adam in der Lage, seine Situation in Worte zu fassen, zu erzählen, was ihn umtreibt und damit zumindest eine gewisse Ordnung in seine Sehnsucht zu bringen. Eva, die Frau, ist es, die ihn zum Sprechen, zum Denken bringt. Und Eva weiß, dass Sprechen allein nicht ausreicht, dass es einer Handlung bedarf, um aus der Trauer herauszukommen. Und deswegen rät sie ihm: »Tu was«. Und sobald Adam eine Handlungsmöglichkeit sieht, wird er wieder aktiv, bricht aus seiner Trauer aus und handelt. Ob das Handeln erfolgreich ist, steht gar nicht zur Debatte. Eva nimmt den Erfolg vorweg: »dass er unseren Wunsch erkenne und erhöre«. Das klingt recht sicher: Das Vorhaben wird schon erfolgreich sein.

Tatsächlich wird Adam seiner handlungsstornierenden Trauer entwunden und beginnt etwas zu tun. Und dabei entsteht ein Mehrwert: Im Handeln wächst ihm etwas zu, das nicht von ihm kommt, »von oben« heißt es, wurde ihm die Gabe der Schrift verliehen, die er in seiner Not selbst erfunden zu haben glaubte. Genau so geht es den Schreibenden: Es tritt etwas anderes hinzu, wenn das Schreiben beginnt. Krüger nennt das in einem Gedicht »den heiligen Geist«. Aber bleiben wir bei Adam, der das Hinzutreten gar nicht bemerkt, sondern sich selbst allein am Werk wähnt. So hat Adam also etwas geschaffen, das nicht nur von ihm, sondern von woanders her kommt. Er nimmt es als sein Werk in Anspruch, wie das jede Autorin, jeder Autor auch tut. Und damit ist ein erster Schritt getan. Eva aber weiß, dass Sinnstiftung so einfach nicht zu haben ist. »Sie lobte ihn«. Und erst jetzt ist Adam in der Lage den entscheidenden Schritt des Werfens zu tun.

Die Erfolglosigkeit seines Handelns könnte einen Rücksturz in die Trauer bedeuten. Doch gibt es eine gewisse Unsicherheit, ob die Botschaft überhaupt angekommen ist. Aus dieser Unsicherheit, die eigentlich Kontingenz ist, gebiert Eva die Aufforderung zur Wiederholung: Mach‘s noch mal.

Es geht hier um alles, um das Sterbenmüssen, um das verlorene Paradies, um das Leben. Der morgige Tag scheint wenig zu zählen. Die Tatsache, dass das Bebauen des Ackers vielleicht Frucht für den Winter bringt, ist für Adam angesichts einer ganz anderen und viel größeren Zeitspanne plötzlich belanglos. Aber Adam hat mit Evas Hilfe nun ein Ritual gefunden, mit dem er seine Trauer bekämpft, die ansonsten nicht nur für ihn selbst tödlich geworden wäre: So schafft er seiner Sehnsucht Ausdruck und für sein Leben Handlungsfähigkeit – dank Eva.

Zeichen seines Wunsches meißelte Adam in den Stein. Was mag das gewesen sein? »Ich lebe und begehre das Leben«? Oder doch eher ein »Wir wollen nicht sterben«? Da es sich offensichtlich um eine Bitte an den HErrn handelt, ist das nicht nur ein Brief, es ist auch ein Gebet.

Gleichzeitig ist es der Anfang des Schreibens und damit der Literatur. Und dass Literatur immer auch ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies ist, das spiegelt sich bis heute im Versuch der Literatur, Sinnzusammenhänge zu konstruieren, die wohl nicht vorhanden sind, aber möglich sein sollen. Und so ist dann jeder Text, der solches versucht, auch wenn er das Gegenteil unternimmt und die Brüchigkeit aufscheinen lässt, ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies.

Auch das verbindet erzählende Literatur mit Religion: Es ist der Widerstand gegen den Tod, die Sehnsucht nach Erlösung, die beide umtreibt. Sie geben dieser Sehnsucht nur unterschiedlich Raum und Perspektive. Manche Dichter finden sich mit dem Tod ab und können den Menschen trotzdem als einen glücklichen Menschen vorstellen (Camus). Andere schreiben gegen den Tod an als gegen den größten Feind des Menschen (Canetti).


2. Der innere Bezug von Geschichten zueinander

Manchmal denke ich, dass die Geschichten einander besser kennen als die Erzähler: Texte rufen und antworten, Figuren sind miteinander im Gespräch, es gibt ein riesiges Beziehungs­geflecht von unerhörten Begebenheiten, Happy-Ends, Anekdoten, Krankengeschichten, Romanen, ohne dass ihre Wege genau zu verfolgen sind. In diesem Geflecht sind wir mehr zu Hause als im eigenen Garten.

Sten Nadolny 1988

Zumindest Judentum und Christentum gründen in Geschichten teils epischen Ausmaßes. Wer die Bibel als Literatur liest, wird feststellen, dass sich dort sehr unterschiedliche Literatursorten finden: Erzählung, Epos, Gesang und Gedicht, Novelle, Rahmengeschichte, Briefe, daneben aber auch Gesetzessammlungen, Trostbücher und Ermahnungen sowie philosophische Texte. Die Bibel ist also in Wirklichkeit eine Bibliothek. Neben den kanonischen Geschichten spielen im Geschichtenhaushalt vor allem auch das Thomasevangelium und das Kindheitsevangelium nach Thomas eine große Rolle und teilweise die nicht kanonischem Apokalypsen, die zumeist im 1. und 2. Jahrhundert nach Christus entstanden sind.

An dieser Stelle ist entscheidend, dass es sich um eine Geschichtensammlung handelt, die zum Teil seit weit mehr als 2000 Jahren immer wieder gelesen und jeweils neu interpretiert wird. Damit gehören all diese Geschichten zum kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaften. Gemeint sind damit jene Gesellschaften, die jüdisch, christlich und zum Teil muslimisch grundiert sind.

Erzählen, sowohl das anonyme Erzählen der Märchen und Alltagsgeschichten wie auch das kunstvolle Erzählen der Dichterinnen und Dichter, greift auch auf diesen Geschichtenpool zurück, ebenso wie auf die tradierten Mythen und Sagen sowohl aus dem Norden wie aus dem Mittelmeerraum. Hinzu kommen Märchen, die von Land zu Land wandern und sich dabei verändern, das alltägliche lebensgeschichtliche Erzählen seit ältesten Zeiten – um nur einige der Quellen auch gegenwärtigen literarischen Erzählens zu nennen.

Bisweilen verändern sich die Geschichten derart, dass sie kaum wiederzuerkennen sind: Aus dem Halbgott, der kulturschöpferische Taten vollbringen muss oder aus dem Ritter, der sein Heldentum beweisen will, wird im Märchen einer, »der auszog das Fürchten zu lernen«.

Märchen, in denen das Gute belohnt und die Bösen am Ende bestraft werden, zeigen die Sehnsucht nach Sinnstiftung ebenso, wie Kriminalromane, in denen nach langwieriger Recherche der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt wird, deutlich machen, dass die Welt eben doch eine Ordnung hat. Das beruhigt nur kurz.

Und so greifen Dichterinnen und Dichter nach anderen Geschichten, deren Wirklichkeit im Laufe der Zeit anders beglaubigt zu sein schien, durch Glauben nämlich, und denen so ein hohes Maß an Lebenswirksamkeit zugeschrieben wurde.

Nur kann ernstzunehmende Literatur heute keine Geschichten mehr von Anfang an so erzählen, dass ein Sinn durchscheint. Voraussehbarkeit ist so gar nicht ihre Sache. Wohl aber ein starker Appell an die Emotionen. Die Schreibenden wissen um den hohen Emotionswert religiös getönter alter Geschichten und Motive, ja sogar einzelner Worte und Sätze. Mit diesem Wissen sind sie nicht allein. Auch Werbung und Propaganda bedienen sich aus diesem Vorrat. Literatur aber ist, mindestens seit den Zeiten des Nationalsozialismus und auf jeden Fall in Deutschland das Gegenteil von Propaganda, auch wenn es Zeiten gab, in denen man das politische Gedicht forderte, und auch wenn in der DDR staatstragende Texte erwartet wurden. Es ist spannend zu sehen, wie gerade bei einem Autor, der in der DDR geradezu als Staatsdichter verehrt wurde, Bert Brecht, die Sprache und die Geschichte der Propaganda in die Parade fährt und (z.B. in der Courage) geradezu religiöse Spuren zum Vorschein kommen. Da ist es dann auch gleichgültig, dass aus dem salomonischen Urteil ein kaukasischer Kreidekreis wird. Auch diese Geschichte ist ja eine Wandergeschichte.

Für das Erzählen in der gegenwärtigen Literatur sind biblische Geschichten allein aufgrund ihrer größeren Verbreitung bedeutsamer als mythische Stoffe. Grundsätzlich geht es der Literatur wie allem Erzählen darum, Geschichten aufeinander zu beziehen, Textura entstehen zu lassen, ein Gewebe also, in dem jede Geschichte mit einer anderen verknüpft ist. Vielleicht, dass auf diese Weise ein großes Netz entsteht, in dem sich Welt und Leben doch noch sinnvoll einfangen lassen.

Zumindest aber, und darauf macht auch Nadolny aufmerksam, ist es wohl so, dass wir, je mehr Geschichten wir hören/lesen und je mehr wir erzählen, umso heimischer werden in dieser Welt der Erzählungen und der Sprache. So entsteht tatsächlich ein Geschichtengarten, der sich von der wilden, unberechenbaren Natur außerhalb des Erzählten abhebt, der – und ich denke, das ist ein Wunsch, der mit dahinter steht – wenigstens zeigt, wie Leben eigentlich sein sollte.

Ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies? Trauergeboren? Gewiss. Folgenlos? Nicht ganz. Denn der Versuch hält eine Frage offen und damit eine Sehnsucht nach Antwort. Eine Antwort allerdings von der die Literatur und die Dichtung weiß, dass sie diese nicht geben kann.


3. Orte und Weisen der Aufnahme religiöser Motive

a) Als in den 80er Jahren Religion als sichtbares Phänomen verstärkt in der Prosa-Literatur wieder auftauchte, geschah dies vor dem Hintergrund einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1976: Tilman Moser, Gottesvergiftung. Der Psychoanalytiker Moser beschreibt darin seine religiöse Sozialisation im evangelischen Umfeld, die ihm einen Überwachungsgott bescherte, der bis in die tiefste Intimität und jede menschliche Zuneigung hinein teuflisch präsent war.

Die deutschsprachige Literatur der späten 70er, der 80er und 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, der früh das Etikett »Neue Subjektivität« angeheftet wurde, hat tatsächlich zum teil biographische und dokumentarische Züge. Über die sprachliche und stilistische Qualität dieser Texte kann man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein. Immerhin bewahren sie etwas auf, dass vielleicht auch späteren Zeiten wieder ins Gedächtnis kommen mag.

In den 80er Jahren nahm die Literatur das Thema »Gottesvergiftung« mehrfach auf sowohl in autobiographischen oder fiktional autobiographischen Zügen wie auch in rein fiktionaler Gestaltung. Jutta Richter, Himmel, Hölle, Fegefeuer. Versuch einer Befreiung 1982 zuerst erschienen, berichtete autobiographisch von einem katholischen Überwachungsgott und dem allessehenden Auge Gottes an der Stirnwand der Kirche. Klaus Stiller (*1941), einer der wichtigen deutschen sog. Dokumentarliteraten, brachte 1986 »Das heilige Jahr« heraus, in dem er vom Religionsunterricht, vor allem vom Beichtunterricht erzählt. In diesen Bereich gehört auch Stadler (* 1950) »Ich war einmal« und die zwei Folgebücher, in denen er nicht nur sein Leben in Schule und Dorf in der Nähe von Meßkirch beschreibt, sondern auch seine religiösen Prägungen inkl. Messdiener-Dasein. Ende der 90er Jahre nimmt Ralf Rothmann (* 1953) diese Erzählform noch einmal auf in seinem Ruhrgebietsroman »Milch und Kohle«, anders noch einmal 2004 in »Junges Licht«. Und zuletzt in diesem Kontext erschien Jutta Schreiber, Ihr ständiger Begleiter, an dessen Ende sich Gott von der Hauptfigur Johanna segnend verabschiedet, weil sie nun selbständig geworden sei. Es ist ein Roman, der im freikirchlichen Umfeld spielt (Baptisten).

Seitdem gibt es fast keine Romane oder dokumentarischen Literaturstücke mehr, in denen kirchliche Sozialisation zum Thema wird. (Walser ist einer, der bisweilen (Ein springender Brunnen) hier noch andockt.) Mag sein, dass religiöse Sozialisation eine immer geringere Rolle spielt, vielleicht aber leiden Menschen inzwischen einfach nicht mehr an kirchlicher/religiöser Unterdrückung, weil ihnen die spitzfindigen Lehraussagen der Kirchen und das Machtgehabe der Erziehenden zunehmend egal sind und sie längst eigene religiöse oder nicht-religiöse Wege gehen.

b) Dennoch bleibt für LiteratInnen die Welt der Religionen, deren Geschichten und Motive ein unerschöpfliches Reservoir, aus dem sie sich immer wieder neu nehmen, was in ihre Erzählungen passt.

Da werden etwa Heiligenlegenden ausgegraben (Bodo Kirchhoff, Michael Köhlmeier) und entweder zu eigenen Geschichten oder in umfangreichere Texte integriert. Es gibt Anverwandlungen apokrypher Texte.[1] Es gibt satirische Umwandlungen (Wertheimer, Als Maria Gott erfand), historisierende Romane (Wickert, Zappas oder die Wiederkehr des Herrn). Manchmal wird biblisches Geschehen in die Gegenwart verlagert (z.B. Hohler, Autostopper) oder in den Himmel (Patricia Highsmith trifft Martin Luther). Es gibt ironische Gleichnisverwandlungen (Haeffs) oder feministische biblische Geschichten (Bronnen). Manches davon ist überflüssig oder nichtssagend – was das Gleiche meint, manches geht den alten Geschichten mit einer Ernsthaftigkeit nach, die zeigt, dass sie auch über die Aufklärung hinaus ihre Wichtigkeit nicht verloren haben.

Gerade die Lücken in den alten Texten, ob sie nun biblisch sind oder der Legenda aurea entstammen oder auch den apokryphen Evangelien und Apokalypsen . machen sie zum Thema für neuere Texte. Und manches lässt sich auch aufgrund der historischen Distanz fröhlich neu verstehen, vor allem wenn sich AutorInnen wenig mit den theologischen oder philosophischen Hintergründen beschäftigen.

War Luther tatsächlich minütlich von Teufelsfurcht besessen, so dass er kaum noch anderes denken konnte? Hat er permanent über seine Verdauung nachgedacht und seine Fürze dem Teufel zugeschrieben? (Zaimoglu, Evangelio)

Wie also war das mit Clara und Franziskus: Hatten sie etwas miteinander oder nicht? Das ist genauso spannend wie die Frage, ob Goethe mit der Frau von Stein etwas hatte oder nicht. Und Antonius: Hatte der tatsächlich mal eine muslimische Geliebte? Das könnte doch auch in heutigen Zeiten weiterhelfen.

c) Es gibt auch ganz andere Texte. Einer der überraschendsten war sicher »Riverside« von Patrik Roth und seine sich daran anschließende Christus-Trilogie, auch das spätere Josephsbuch gehört dazu. Literatur kann ja nicht wirklich von Transzendenz handeln. Und darum geh es auch bei Roth nicht. Es geht aber um etwas, das auch die Religion im guten Sinn bewegt: Um Menschwerdung und deren Schwierigkeiten. Also wirklich um das, was uns unbedingt angeht.

Es gibt Romane, die noch einmal vermittelt durch die Geschichte, religiöse Motive aufgreifen (Lewitscharoff), die vielleicht weniger ein Pfingstroman als ein Dantebuch sind und dennoch über die Voraussetzungen eines Pfingstwunders nachdenken.

Und es gibt unendlich viele Bücher, in denen es um die »letzten Dinge«, also um Sterben und Tod geht. Susan Pasztor hat mit ihrem letzten Roman beispielsweise ein Denkmal für die Hospizbewegung geschrieben.

Und ab und an finden sich in Romanen auch Fragen, die sich an jene richten, die heute noch verkündigen und so die Gestalt des Priesters oder Pfarrers in den Blick nehmen. Das kann sehr nachdenklich sein, wie bei Petra Morsbach, Gottesdiener oder auch sehr witzig bei Lilian Faschinger, Magdalene Sünderin:

Es geht darum, dass Sie mir in Ruhe zuhören, dass Sie mir, der ununterbrochen ins Wort gefallen worden ist, nicht ins Wort fallen, mir, der ununterbrochen das Wort abgeschnitten worden ist, nicht das Wort abschneiden. ... Ich will eine Beichte ablegen, Hochwürden, das ist alles.

Ein Autor, vielleicht besser gesagt: ein Dichter, der beides: Das Klagen im biblischen Sinn und das Aufnehmen alter Traditionen im biographischen Sinn miteinander verbindet, ist Josef Winkler, ein Österreicher. Für ihn wird das Dorf, aus dem er stammt zum Kosmos. Die Sprache der Totenbildchen, Kirchenlieder und Liturgie wandern als erschreckende Einsprengsel in die Alltagssprache ein und nehmen Kontakt auf zu den Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Und spätestens da wird deutlich: Literatur kann auch destruieren – bei Winkler im guten Sinn. Denn wer da nachliest, dem gehen manche frommen Worte nicht mehr über die Lippen.

d) Implizit kommen viele Romane und Erzählungen an die Grenze religiösen Sprechens oder Denkens. So berichtet Daniel Kehlmann in seinem ganz unhistorischen Roman über den dreißigjährigen Krieg von Inquisition und religiöser Verfolgung. Franzobel erzählt in »Das Floß der Medusa« von Schiffsgeistlichen usw. In anderen Büchern ist das Beten (noch) selbstverständlich, gibt es Prozessionen oder Choralgesang. Solche Romane und Erzählungen machen deutlich, dass Religion einmal ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Kultur war.

Aber aus der Lektüre-Erfahrung zeigt sich auch, dass das längst nicht mehr der Fall ist. Denn vieles was noch vor zwei Jahrzehnten unmittelbar verständlich war, ist heute den Leserinnen zu erläutern. Immer weniger Inhalte aus den kulturellen Archiven der Religion, des Christentums, werden alltäglich im sozialen Gedächtnis, das ja ein kommunikatives Gedächtnis ist, aktiviert und damit aktuell gehalten. Zunehmend werden also auch literarische Texte, die religiöse Motive aufnehmen, erklärungsbedürftig.

Was das im Blick auf Unterricht (z.B. Deutsch, Religion Geschichte etc.) oder auf Erwachsenenbildung hin bedeutet, wäre eine neue Diskussion.


4. Ein Ausblick?

Es ist eine künstlerische Erinnerung, der Versuch einer stellvertretenden. Ich schreibe ja nicht nur für mich, ich schreibe auch, damit etwas aufgehoben ist für die, die nicht geschrieben haben. Meine Großmutter hat gesagt: Ich müsste mal ein Buch schreiben. Das hat sie nicht getan, sie ist gestorben. Erinnerung hat auch mit Imagination zu tun.

…ich bin nicht dazu da, die Welt neu zu erschaffen, das ist mir zu viel, zu groß. Ich bin kein Schöpfer, der eifersüchtig ist auf Gott und beleidigt, dass es etwas Größeres gibt als ihn selbst.

Arnold Stadler[2]

In den letzten Jahren scheint es so, als gewinne Religion in der Literatur wieder mehr an Bedeutung. In den 00er Jahren dieses Jahrhunderts gab es zumindest in der Prosa-Literatur nur ausnahmsweise ein solches Zueinander. Auch gesellschaftlich ist das Thema Religion präsenter als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. Mit einem Wissen von religiösen Inhalten geht das allerdings gesamtgesellschaftlich nicht einher (s.o.).

Gerade die letzten zwei Jahre zeigen für den Bereich Prosa-Literatur, dass sich hier etwas Neues zu entwickeln scheint. Religion kommt vor, weniger als Satire – wie das sonst oft der Fall war – oder als etwas, gegen das es sich abzugrenzen gälte, sondern mehr als ernst zu nehmende Größe im kulturellen Kontext. Daran haben AutorInnen aus anderen Kulturkreisen nicht wenig Anteil. Einer, der anerkannt ist und wie wenige andere dieser Thematik nachgeht, ist Navid Kermani, der sich nicht scheut über die Schönheit Gottes zu schreiben oder über seine Begegnungen z.B. mit christlicher Kunst.

Dass es mit so manchem Muslim plötzlich Menschen gibt, die ihre religiöse Überzeugung in die Öffentlichkeit tragen, scheint auch die Mehrheitsgesellschaft zu tangieren. Zumindest reagiert die Literatur darauf.

Es sind allerdings oft, die »gelehrten« Autorinnen und Autoren, die in diese Richtung scheiben. Lewitscharoff oder auch Stadler dürfen als Beispiele dafür gelten.

Dass innerhalb von etwa 18 Monaten eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren Romane oder Erzählbände herausgebracht haben, die Religion thematisieren (Lewitscharoff, Köhlmeier, Pásztor, Lehnert – um nur die bekanntesten zu nennen), dass es in den letzten Monaten zwei Hefte der Zeitschrift »Akzente« gab, die sich dort verorten lassen (Legenden und Das Böse), spricht für sich.

Der Literatur jedenfalls bekommt die neue Nähe zu religiösen Motiven und Geschichten gut. Ob religiös grundiertes oder motiviertes Sprechen davon profizieren kann, ob es das überhaupt will, ist eine Frage, die sich vor allem an jene richtet, die in den Religionsgemeinschaften Definitionsmacht für sich beanspruchen.

Wie sich Literatur unter dem Akzent religiöser Sprache und religiöser Motive wandelt und vermehrt Momente der Selbstbesinnung zeigt, so würde sich auch religiöses Sprechen unter dem Einfluss literarischer Reflexion und Kreativität verwandeln.

Theologisch und literarisch gesprochen könnte das eine Einflugschneise für den heiligen Geist sein.

Offen bleibt, welche Institution, welche beamteten Rednerinnen oder Redner sich dem – freiwillig – aussetzen möchten.


[1] Die englischsprachige Literatur geht z.B. mit »Die Bibel nach Biff« oder mit den Romanen von Dan Brown auch im Unterhaltungsbereich locker mit derlei Dingen um.

[2] In Volltext 3/2009