Auch das Abendland liest...

Vorbemerkung

Wenn es heißt, dass das Abendland lese, so hat das – vorweg gesagt – erst einmal keine Ausschließlichkeitsbedeutung. Die Schrift ist keine Erfindung des Abendlandes und darum das Lesen auch nicht.

Die Entstehung von Schrift und damit Lesen steht im Zusammenhang der Urbanisierung schon sehr früher Kulturen. Schreiben und Lesen waren Voraussetzung für das Funktionieren der Verwaltung in den Städten des alten Orient, im Gebiet des heutigen Irak, und damit, wovon man schon vor 5.000 Jahren offensichtlich überzeugt war, für das Wohlergehen der Bevölkerung.

Allerdings war es immer nur eine kleine Schicht von Verwaltungsbeamten bzw. Priestern, die des Lesens und Schreibens mächtig war. Ähnliches traf auch auf Ägypten zu.

Wenn diese Anmerkungen sich unter den Titel „Das Abendland liest...“ stellen, dann deswegen, weil die Kultur des Abendlandes eine durch und durch literale ist, und das nicht erst, wie bisweilen behauptet wird, seit 100 Jahren.

Es geht hier aus unterschiedlichen Gründen um die kulturelle Identität des Abendlandes, Europas oder wie auch immer wir das Gebiet nennen wollen, das durch Christentum und Aufklärung geprägt wurde. Identität entsteht u.a. aus Erinnerung, und Identität legt Wert auf Unterschiede.

In diesem Sinne geht es darum zu klären, in welcher Weise Lesen (und Schreiben) für uns, denen das Abendland kulturelle Heimat ist, ein zentrales Element unserer kulturellen Identität (geworden) ist.

So soll in 10 Punkten das Thema ausgeleuchtet werden:

1.    Zum Zusammenhang von kultureller Identität und interkulturellem Dialog

2.    Was ist Lesen?

3.    Vom Erzählen zum Schreiben: Diachron

4.    Oratur und Literatur: synchron

5.    Von der Voraussetzung des Erzählens für das Lesen

6.    Memorierendes und interpretierendes Lesen

7.    Was meint: Kulturelles Gedächtnis?

8.    Sprache, Literatur und Erinnerung

9.    Die Bibliothek als Speicher kulturellen Gedächtnisses

10. Leseförderung als Aufgabe

All das ließe sich mit weitreichendem philosophischen Hintergrund und wissenschaftlichem Apparat darstellen. An dieser Stelle jedoch geht es eher darum, auf essayistische Weise die unterschiedlichen Facetten des Themas aufscheinen zu lassen.


1. Zum Zusammenhang von kultureller Identität und interkulturellem Diskurs

Zu wissen, wer ich bin, ist die Voraussetzung dafür, jemand anderen in seinen Eigenarten überhaupt wahrnehmen zu können. Solange ich von mir nichts weiß, solange ich mir meiner nicht gewiss bin, nutze ich den anderen immer als Projektionsfläche meiner Wünsche, Ängste oder Zweifel. Das gilt im Verhältnis zwischen einzelnen Menschen, es gilt erst recht im Verhältnis zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen.

Das schon ältere Kinderbuch von Mira Lobe, „Das kleine Ich bin Ich“ zeigt das auf ganz bezaubernde Art: So lange das kleine Ding nichts von sich weiß, wird es von allen Wesen auf sein Anderssein verwiesen – obgleich doch auch Ähnlichkeiten sichtbar sind. Erst als es sich selbst entdeckt: „Sicherlich gibt es mich, ich bin ich“, erst an der Stelle wird es auch von den anderen Wesen auf der Blumenwiese akzeptiert.

Nun werden wir Menschen nicht nur von den persönlichen Erfahrungen, die wir machen, geprägt, auch nicht nur von dem engeren (Familien-)Umfeld, in dem wir aufwachsen. Die kulturellen Gegebenheiten, in die wir geboren werden, sind vermittelt genauso Gestalt gebend für unsere Identität: Sprache und Religion, Literatur, Musik und Kunst, kulturelle Rituale wie Begrüßungen und Ähnliches mehr hinterlassen Spuren in unserer Entwicklung, und die überlieferten Erinnerungen an die Geschichte der eigenen Gemeinschaft gehören ebenfalls dazu.

Allerdings sind uns in Europa all diese Dinge hinterfragbar geworden. Bei allem sind wir gewohnt zu fragen, ob es denn nicht auch anders sein könne, ob man statt Christ nicht auch Buddhist sein könne, ob nicht vielleicht doch die afrikanische Musik lebendiger sei als unsere musikalische Konzertkultur, ob unsere Rituale nicht zu formalisiert seien und ob wir statt Deutsch nicht doch lieber Englisch sprechen sollten – jedenfalls unter gewissen Bedingungen, im Management-Umfeld etwa oder im Wissenschaftsbetrieb. Und bisweilen scheint hinter all den Fragen die grundsätzliche Frage nach dem Wert unserer eigenen Kultur zu stehen – weil wir uns selbst immer wieder dem Verdacht aussetzen, es könne in der Wertschätzung unserer eigenen Kultur eine Missachtung anderer Kulturen stecken.

Für Deutsche trifft diese Wahrnehmung vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte in noch weitaus größerem Maße zu als für andere europäische Nationalitäten.

Und nicht einmal jene kulturelle Errungenschaft, die all das ermöglicht, die Fähigkeit zur Reflexion und damit auch zur Relativierung, scheint plötzlich noch etwas zu gelten, seit uns diese von anderen als eine besondere Form des Eurozentrismus angekreidet wird, ein kultureller Sonderweg, mit dem wir die Welt dominieren wollen.

Als Gegenposition baut sich vor allem in manchen Bereichen der Politik, noch mehr aber bei jenen, deren Zukunft eh schon aus finanziellen Gründen unsicher genug ist, eine Haltung auf, die das Nachfragen gar nicht mehr erlaubt und jegliche Reflexion als Zersetzung brandmarkt.

Mit solcher Verunsicherung oder auch Gleichgültigkeit stoßen wir auf Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen und ihrerseits ein hohes Maß an Verunsicherung in sich tragen. Denn wer aus der Fremde, gar als Flüchtling in dieses Land kommt, der wird sich heimlich die Frage stellen, warum er denn in seiner eigenen kulturellen Heimat nicht mehr leben konnte. Gleichzeitig wird aber die eigene Kultur zum einzigen, was von der alten Heimat, von dem, was Wurzel war, übrig geblieben ist.

Für beide Seiten gilt: Wo kein Bewusstsein der eigenen kulturellen Identität vorhanden ist, wo die Einwürfe und Fragen, das Wissen und das Fühlen aus der Herkunftskultur mundtot gemacht oder als gleichgültig erklärt werden, sind sie keinesfalls auch verschwunden. Sie wirken weiter – im Verborgenen - und sind dann erst recht keinem Fragen und keiner Reflexion mehr zugänglich: Diskurs wird auf diese Weise unmöglich.

Es braucht für einen interkulturellen Diskurs – dem wir uns aussetzen müssen, ob wir das wollen und Lust dazu haben oder nicht – ein geklärtes Wissen um die eigenen kulturellen Hintergründe, denn Diskurse finden statt mit dem Ziel humaner Vereinbarungen über ein sanktioniertes Zusammenleben, im besten Sinne sogar mit dem Ziel der Wahrheit.

Das Bewusstsein der eigenen kulturellen Identität ist deswegen Voraussetzung für das Gelingen eines interkulturellen Diskurses.

Da wir als Deutsche und Europäer zunächst nur uns selbst anschauen, unsere eigene kulturelle Identität in den Blick nehmen können, soll genau das in einem kleinen Bereich hier geschehen. Natürlich werden dabei immer wieder Blicke auch auf die Unterschiede zu anderen Kulturen nötig. Im Zentrum stehen hier immer Sprache und Schrift.


2. Lesen – eine zentrale kulturelle Gemeinsamkeit Europas

Es gehört zu unserer Kultur, dass die meisten Menschen unseres Landes irgendwann und irgendwie Lesen lernen. Wie das geschieht, ist zunächst einmal gleichgültig. Die meisten Menschen machen sich, wenn sie denn erst einmal lesen können, keine Gedanken mehr darüber, ob es schwer oder leicht war, das zu lernen. Lesen ist eine unbewusste Kompetenz, die wir erwerben, und manchen scheint es so selbstverständlich wie sprechen oder laufen.

Und wie es manche Menschen gibt, die stumm sind oder lahm, so scheint es eben auch manche zu geben, die eben nicht lesen können. So ist das eben.

Nun macht uns unser deutsches Wort Lesen darauf aufmerksam, dass es auch etwas ganz anderes bedeuten kann als Wörter vom Papier oder vom Bildschirm zu klauben: Wir sprechen von Wein- und Rebenlese, von Blütenlese, wir lesen etwas auf und lesen es aus, wir finden manche Dinge erlesen und bisweilen machen wir nicht viel Federlesen. Deutsch ist die einzige germanische Sprache in der das Lesen als „Auflesen“ auch die Bedeutung des Lesens im Sinne der Textaufnahme hat. Es entspricht in seiner Bedeutung damit weitgehend dem lateinischen „legere“ und ist vermutlich eine Lehnbedeutung.

Dass es sich beim Lesen um das Auflesen von Buchenstäbchen eines Orakels handelt, ist wohl eher als irrig anzunehmen, geht es doch dabei eher darum, die Bedeutung der von den Stäbchen gebildeten Muster zu finden als diese wieder aufzulesen.

Ein Wort für das, was wir Lesen nennen und was für uns ein Sammelvorgang ist, kennen alle europäischen Sprachen und obwohl „lire“ und „read“ einander wortgeschichtlich fremd sind, meinen sie doch genau das Gleiche: Buchstaben zu Worten zusammenzufügen und den dahinter liegenden Sinn zuzuordnen. Das ist nicht im kognitionswissenschaftlichen Sinne zu verstehen – dann ließe sich darüber auch noch anderes vermelden.

Was da in Europa gelesen wird, das liegt so nah beieinander wie die Bedeutung des Wortes, das jeweils Lesen meint. Bibel, Kirchenväter, griechische und lateinische Autoren - die gegenseitige Bezugnahme mittelalterlicher Dichter unterschiedlicher Sprachen war selbstverständlich, wie etwa das Beispiel Chretien de Troyes und Wolfram von Eschenbach zeigt - , auch später dann bis in die Gegenwart hinein gibt es Bezugsketten zwischen deutscher und französischer Lyrik, zwischen deutscher und englischer Lyrik etwa, und auch die Schreibweise der Romanautoren korrespondierte einander und damit auch das Leseverhalten der Rezipienten. Als Beispiele seien hier die Nähen zwischen „Ulysses“, „Recherche“ und „Mann ohne Eigenschaften“ genannt.

Wesentliche Bewegungen der Neuzeit in Europa sind Bewegungen, die sich dem Lesen verdanken und natürlich dem zugrunde liegenden Druck bzw. Buchdruck. Das beginnt bei der Reformation, geht über die Gegenreformation, über die Aufklärung bis hin zu sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Was allerdings das Lesen und das Lesen-Können für unsere Kultur und damit für unsere europäische Identität bedeutet, das lässt sich erst an der Geschichte der Entwicklung von der Oralität zur Literalität erkennen.


3. Vom Erzählen zum Schreiben

Nicht nur in Europa sind Lesen und Schreiben menschheitsgeschichtlich sehr junge Errungenschaften. Über Zehntausende von Jahren haben Menschen sich in Bildern und Skulpturen ausgedrückt, wenn etwas dauerhaft sein sollte, oder in Erzählungen und Geschichten.

Da es hier um Sprache geht, beschränke ich mich auf den Bereich sprachlichen Ausdrucks.

Erzählen heißt ja nichts anderes, als Begebenheiten und Dinge in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen, sie also zählend zu ordnen. Solche Ordnung herzustellen, war für die Menschen früherer Zeiten mindestens so wichtig wie für uns die Erschließung sogenannter Naturgesetze und die naturwissenschaftlicher Forschung, die ja gewissermaßen auch eine Art Zählen ist.

Im Erzählen ordnen die Erzähler ihren Zuhörern die Welt. So entstehen Mythen, ausgehend von besonderen Orten, von alten Kultorten womöglich, von besonderen geographischen Gegebenheiten. Und so wird die Welt ins Lot gebracht, auf dass sie menschlicher, heimatlicher werde und so ihre Bedrohlichkeit verliere.

Und dieser Art des Erzählens wurde heilsame, geradezu magische Wirkung zugesprochen: Was erzählt wurde, hatte Wirklichkeit gewonnen. So mussten sich die Griechen immer wieder erzählen, dass Okeanos und Thetys zerstritten waren, damit nicht neues Chaos entstehe. Und die Juden mussten ihrem Gott immer wieder sagen, dass es gut war, damit er nicht aufs Neue anfange zu erschaffen oder zu ändern.

So entstand auch aus der Erzählung heraus aus Chaos Kosmos. Jedenfalls für die Erzähler und ihre Zuhörer.

Noch Sten Nadolny versteht Erzählen in diesem Sinne, wenn er schreibt: „Das Erzählen trägt uns, wie die See den Seemann. Nichts wird sicherer dadurch, nur er selbst.“

Doch nicht nur die kosmischen Kräfte galt es erzählend zu ordnen und zu bannen, vielmehr noch war es notwendig die Menschenwelt durch Erzählungen in Ordnung zu halten und ihr Dauer zu verleihen.

Und so zogen fahrende Sänger umher oder der Hausherr – König genannt – begann selbst zu sprechen, um die Geschichte der Familie, der Sippe, der verwandten Gemeinschaft zu erzählen. Das waren Feste. Und die Zuhörenden waren im Augenblick des Zuhörens eine einzige große Gemeinschaft mit gemeinsamer Geschichte und darum auch mit gemeinsamer Zukunft. Sie erhielten Sinn zugesprochen und erlebten diesen Sinn im Moment des Hörens.

War aber die Erzählung, war der Gesang verklungen, dann verschwand auch diese Sinnerfüllung, dann setzte der mühsame Alltag ein und die Gemeinschaft war bloß noch eine Funktionalgemeinschaft. Bis zum nächsten Fest.

Auch Verhaltensmaßregeln für den Umgang miteinander, für den Umgang mit Autoritäten enthielten die Erzählungen und Gesänge, auch sie mussten immer wieder neu zum Vortrag gebracht werden, damit die Jungen in die Welt der Alten wuchsen, damit ein Traditionsgefüge entstand und nicht nur Alltagswissen sondern auch Weltwissen und Wissen um die Beschaffenheit des Menschen weiter gegeben werden konnte.

Gerade für die sogenannten Dark Ages in Griechenland, die Zeit der sogenannten Seevölkerstürme und den damit zusammenhängenden kulturellen Umbruch sind solche Formen der Überlieferung anzunehmen. Es ist dies die Zeit von etwa 1200 bis 800 vor Chr..

Um 800 v. Chr. etwa übernahmen die Griechen dann das phönizische Alphabet und adaptierten es an ihre eigene Sprache. Nicht als ob es zuvor im griechischen Kulturraum keine Schriften gegeben hätte: Die mykenische Kultur kannte die sog. LinearB-Schrift und die Minoer auf Kreta schrieben LinearA – wobei LinearA bis heute nicht recht entziffert ist (z.B. der Diskos von Phaistos). Allerdings entsprach diese Schrift in ihrem Gebrauch in etwa der Keilschrift – sie diente der Verwaltung und der Priesterschaft.

Auch in Griechenland steht die Einführung dieser neuen Schrift im Zusammenhang mit einer neuen Welle der Urbanisierung und der Ausweitung des Handels. Das Eigenartige aber ist, dass nur wenige Jahrzehnte später diese Schrift dazu diente, eines der größten Epen der europäischen Kultur aufzuzeichnen, die Ilias nämlich.

Diese Ilias ist ein Kind beider Welten, der Welt des Erzählens und der Welt des Lesens und Schreibens: Von der Welt des Erzählens, des Gesanges zeugen die feststehenden Attribute (z.B. im Zusammenhang mit Zeus oder Eos) und die festgefügten Wendungen, die es einem Sänger erleichterten Rhythmus und Ton zu halten und die zugleich Wiedererkennungswert hatten. Von der Welt des Schreibens zeugt die gesamte Konstruktion dieses Epos, die hochgradig artifiziell ist: Keineswegs eine geradlinig erzählte Geschichte des trojanischen Krieges, sondern eine kurze Episode, die nicht einmal bis zum Ende des Krieges währt und in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und Achilleus steht.

So hatten die Europäer die Schrift gefunden und nutzten sie, um alte Geschichten, die früher erzählt wurden, zu notieren und ihnen dadurch Dauer zu verleihen, eine Dauer übrigens, die immer noch währt.


Kleiner Exkurs: Sprache, Welt und Menschen

Sprache, so war oben schon zu sehen, ordnet den Menschen die Welt. Sie ist gleichermaßen Ausdrucks- und Wahrnehmungsmedium. Mit ihren Zeitwörtern ordnet sie in den indogermanischen Sprachen die Zeit, in anderen Sprachen der Welt schließt eine Vielfalt von Namen für den gleichen Gegenstand oder bestimmte (Verwandtschafts-) Beziehungen die unterschiedlichen Facetten von begegnender Realität oder von sozialen Beziehungen auf.

An der Weise, wie Menschen ihre Sprache verstehen, lässt sich oft genug ablesen, wie sie mit Menschen umgehen. Wo beispielsweise in der Sprache lediglich der Informationswert von Bedeutung ist, kann man fast davon ausgehen, dass auch Menschen lediglich in ihrer Funktion gesehen werden. Und wo die unterschiedlichen Dimensionen von Sprache zur Geltung kommen, da dürfte denn auch der Mensch in seiner Mehrdimensionalität im Blick sein.

Welt entsteht für die Menschen erst durch Sprache, und das heißt im kommunikativen Miteinander. Insofern ist Sprache ein entscheidender, vielleicht sogar der entscheidende Kulturfaktor.

Wenn sich nun im Umgang mit der Sprache etwas ändert – und das ist der Fall, wenn eine Veränderung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit stattfindet – dann muss das nachweisliche Konsequenzen für den Umgang der Menschen mit der Welt und mit sich selbst haben.

Das nachzuweisen und für die kulturelle Identität Europas zu konstatieren ist Ziel der nun fortschreitenden Überlegungen.


Dauer ist das Gegenteil dessen, was eben im Zusammenhang des Erzählens als Verklingen benannt wurde. Dauer ist aber auch das Gegenteil dessen, als was sich der Mensch selbst erlebte: Ein kurzlebiges und gefährdetes Wesen. „Brotoi“ – „Sterbliche“ – ist die homerische Bezeichnung für Menschen.

Und nun beginnen die Menschen, die Lesenden, sich plötzlich mit dem Geschriebenen zu beschäftigen – und es waren eben nicht mehr nur Priester und Verwaltungsmenschen, es waren Händler und Handwerker, Adelige, Großgrundbesitzer, Menschen jedenfalls die sich den Luxus des Lesens leisten konnten. Es waren, so würde man heute wohl sagen, kulturelle Protagonisten, Avantgardisten.

Und die begannen sich nun über die Schrift zu beugen. Und wo sie das Gelesene nicht verstanden, gingen sie zu jemand Verständigem, zu einem Hodegeten, und manche begannen über das zu Lesende gebeugt, selbst zu verstehen, noch einmal zu lesen, zu systematisieren, kurz: zu re-flektieren.

Wie die Menschen sich über die Schrift beugten und sie zu entziffern und das Gelesene zu verstehen suchten, so begannen sie nun immer mehr sich auch über die Welt zu beugen um sie zu entziffern und zu verstehen, immer mehr fingen sie an, sich über sich selbst zu beugen, um sich und den Menschen zu entziffern und zu verstehen. Und nicht einmal die Götter blieben von Reflexion und Systematisierung verschont, wie das Beispiel Hesiods etwa ein halbes Jahrhundert später zeigt.

Mit dieser Schrift beginnt in Europa die Philosophie, beginnen die Wissenschaften – Aristoteles wird das später Physik nennen.

Aber der über sich selbst gebeugte Mensch entdeckt eben auch sich selbst und weiß, dass es nicht genug sein kann mit jener Blutseele, dem Thymos, der der Erde anheim fällt und jenem Schmetterling Psyche, der Luftseele, die allenfalls ein Schattendasein im Hades führen wird. Der Mensch jener Zeit beginnt auch für sich selbst Dauer zu ersehnen. Und er weiß schon damals, dass er diese Dauer allein nicht wird schaffen können. Wohl nicht zufällig datieren auf das 8. Jahrhundet vor Chr. die ersten Mysterien von Eleusis.

Erzählen setzt Gemeinschaft voraus und schafft sinnerfüllte Gemeinschaft. Eine Erzählkultur nimmt den Einzelnen vielleicht als besonderen Einzelnen wahr, als Heros etwa, als Herrscher vielleicht. Die Masse der Menschen ist aber gesichtslos. Und das Schicksal aller Sterblichen ist das gleiche: „Lieber Tagelöhner auf dem Hof meines Vaters als Herrscher der Unterwelt“ lässt Homer den Schatten des Achill sagen.

Wer hingegen liest, entdeckt dabei auch sich selbst. Lesen kann eine sehr einsame Angelegenheit sein. Der Lesende braucht nur den Text und sich selbst. Und so entdeckt er sich als Individuum. Erst mit der Schrift gibt es auch Individualität. Und erst mit der Schrift gibt es die Sehnsucht des Einzelnen nach Dauer und nach Würde.

Diese mit der Schrift begonnene Form von Individualität schreibt sich in den folgenden Jahrhunderten fort. Sie erreicht einen ersten Höhepunkt in der damaligen Oikumene, der hellenistisch-römischen Kultur um die Zeitenwende. Das Anwachsen der Zahl ganz unterschiedlicher Erlösungsreligionen von der Orphik über die Isis- und Mithras-Kulte bis hin zum Christentum macht das deutlich.

Diese damals begonnenen Spuren haben sich fortgesetzt durch die Jahrhunderte. Sicher gab es Unterbrechungen und Brüche. Den wohl schlimmsten stellt die Zeit des Nationalsozialismus dar, in der der Einzelne nichts und das Volk alles galt – nominell jedenfalls. Aber mit der Charta of Human Rights, mit den Schriften der Aufklärung haben diese Tendenzen immer mehr an Sprache und auch an Durchsetzungsvermögen gewonnen. Eines der jüngeren Zeugnisse dafür ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

In diesem Sinne zuallererst ist der Titel dieser Überlegungen zu verstehen:

„Das Abendland liest...“.


4. Oratur und Literatur

Nicht alle Schriftkulturen gleichen sich in ihrer Tendenz zur Individualität. Die griechisch-lateinische Schrift ist eine selbsterklärende Schrift. Wer diese Schrift einmal gelernt hat, kann selbstständig damit weiterarbeiten. Er kann sogar das Verständnis fremder Sprachen ganz allein über die Schrift erwerben.

Das ist beispielsweise im Chinesischen durchaus nicht der Fall: Ich muss die Sprache kennen und wissen, welches Zeichen welchem Wort zugeordnet ist, um diese Schrift lesen zu können. Und es dürfte kaum einen Chinesen geben, der alle Schriftzeichen seiner Schrift kennt und damit die den Zeichen zugewiesene Bedeutung.

Das heißt: Im Umgang mit dieser Schrift bleibe ich immer ein Angewiesener, in gewisser Weise in Abhängigkeit.

Ähnliches trifft beispielsweise auf die arabische Schrift zu, die ich ohne diakritische Zeichen nur dann werde lesen können, wenn ich die Sprache bereits kenne. Deswegen ist ja der Koran mit allen diakritischen Zeichen geschrieben, damit auch Muslim, die des Arabischen nicht mächtig sind, ihn richtig lesen können.

Eine weitaus größere Differenz hingegen besteht gegenüber allen oralen Kulturen. Der Alltag oraler Kulturen gehört dem Augenblick und der Existenz der Gemeinschaft, aus der heraus und in der ich lebe. Europäer beschreiben derartige Kulturen oftmals als faul, als unmenschlich, als wenig weitsichtig und so weiter. Dabei leben diese Kulturen etwas, was uns mit der Schrift und erst recht mit der Aufklärung verloren gegangen ist: Die absolute Hingabe an die Gegenwart. Nur der Stamm als solcher, die Familie hat eine Geschichte, die sich an bestimmten (Kult-) Gegenständen, in Gesängen und Tänzen beispielsweise auffinden lässt – jedenfalls für die, die hören, sehen und tanzen können. Zwar behindert diese Haltung das, was wir Entwicklung einer Zivilisation nennen, andererseits lebt hier eine Fähigkeit, die wir gewöhnlich als paradiesisch bezeichnen: „Wenn wir Ewigkeit als Zeitlosigkeit verstehen, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus)

Wieder einmal zeigt sich an dieser Differenzierung, in welcher Weise das fremde Andere uns gleichermaßen fasziniert und abstößt: Auf der einen Seite sehnen wir uns nach der verlorenen Gegenwärtigkeit, auf der anderen Seite wollen wir die Konsequenzen daraus nicht so recht wahrhaben – und gleichzeitig versuchen wir – wie die Schlange im Paradies – andere Kulturen von den Segnungen des Baumes der Erkenntnis zu überzeugen.

Erst der lesende Mensch hat wirklich vom Baum der Erkenntnis genascht. Das gibt dem Leben tatsächlich neue Perspektiven, aber auch das Wissen, dass die Gegenwart immer schon vorbei ist, wenn wir nach ihr greifen wollen. Und es macht die Sehnsucht nach Dauer nur größer.

So tun umso mehr Achtung gegenüber oralen Kulturen und ihr Schutz not. Nicht weil diese Kulturen das Museum unserer eigenen Herkunft sind, sondern sich in ihnen ein Gegenentwurf zu unserer Kultur abzeichnet und damit die Hoffnung gegeben ist, dass sich dort ein Wissen um die Welt und den Menschen finden mag, das wir eben nicht (mehr) haben, das womöglich aber eines Tages menschheitsrettend sein kann.

Anders hingegen steht es um jene Kulturen, die zwar längst Schriftkulturen sind, aber ihren Mitgliedern nicht generell ermöglichen, diese Schrift auch zu lernen. Dazu gehört neben einem entsprechenden Bildungssystem auch das Bereitstellen entsprechender Lektüren.

Analphabetismus verhindert in literalen Kulturen nicht nur die Partizipation am politischen System. Er spielt letztlich Despoten in die Hand, weil er einen großen Teil der Menschen (in den arabischen Ländern ca. 38 %) zur Verfügungsmasse jener macht, die aus ihrer privaten Weltsicht eine allgemeingültige machen. Es ist schon erstaunlich, dass beispielsweise in den arabischen Staaten in 1000 Jahren weniger Bücher erschienen sind als beispielsweise in Spanien in einem einzigen Jahr erscheinen.

Nicht zuletzt das macht deutlich, dass es allzu viele Menschen auch in altehrwürdigen Schriftkulturen gibt, denen jenes Reflexionstraining, das das Lesen darstellt, nicht zur Verfügung steht.

Wir brauchen uns nicht zu wundern, da es selbst in durchgestylten literalen Kulturen Fundamentalisten gibt, jedenfalls in begrenztem Umfang, (Die USA bilden hier eine Ausnahme, für die es Gründe in der Geschichte gibt, z.B. die mangelnde Auseinandersetzung mit religiösen Machtansprüchen), denen das Denken zu anstrengend ist und die auf Komplexitätsreduzierung Wert legen, wenn sich in weniger literal durchsetzten Gesellschaften Menschen finden, die Ideologen auf den Leim gehen.


5. Von der Voraussetzung des Erzählens für das Lesen

Hätten Menschen nicht immer schon erzählt, das Lesen wäre ihnen wohl wenig sinnvoll erschienen. Erzählen ist von Anfang an ein dialogischer Prozess, selbst wenn nur einer zu sprechen scheint. Der Erzähler nimmt jedoch die Reaktion seiner Zuhörer auf, reagiert auf sie, verstärkt und schwächt ab, geht auf Einwürfe ein und so weiter. Und so entsteht im Erzählprozess eine Sinngemeinschaft. Damit das geschehen kann, müssen Erzähler und Zuhörer in der Lage sein, nicht nur einzelne Worte oder einzelne Sätze zu verstehen, sondern den Sinngehalt der gesamten Erzählung zu begreifen.

Was wie ein Märchen aus alten Zeiten klingt, ist heute immer noch erlebbar, überall dort nämlich wo z.B. Kindern erzählt wird. Aber auch Erwachsene lassen sich bis heute durch Erzählen – oder bisweilen auch Vorträge – fesseln.

Mit den beim Erzählen erworbenen Fähigkeiten zur Sinnaufnahme gehen Menschen auch an geschriebene Texte heran. Schon das Wort „Text“ macht das deutlich, es bedeutet „Gewebe“.

Wenn nun Erzählen eine notwendige Voraussetzung für den Erwerb dessen ist, was wir heute Literalität nennen, also den Umgang mit Schriftlichkeit, die Fähigkeit zum sinnerfassenden Lesen, dann wird klar, was der Verlust der Erzählkultur in Elternhäusern, Kindergärten und Schulen bedeutet.

Hinter diesem Verlust steht eine merkwürdige Missachtung des Erzählens über lange Zeit hin – auch das übrigens u.a. eine Folge der Aufklärung. In einer an Tatsachen, an sogenannten Realitäten orientierten Gesellschaft, die auch in der Historie nach Fakten und nicht nach Sinn fragt, fallen dann Sätze wie: „Erzähl mir doch nichts!“, „Erzähl mir doch keine Märchen!“.

Erzählen gilt bestenfalls als Kinderkram, und selbst das Lesen von Romanen war bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein allein Frauensache, galt als unmännlich. Glücklicherweise gab es ein paar Texte, die als hohes Kulturgut geschätzt wurden und die deshalb auch in den Schulen weitergegeben wurden. Aber insgesamt wurden Geschichten, nicht nur mündlich erzählte Geschichten, eher abschätzig betrachtet.

Die Deutsche Romantik, insbesondere die Sammeltätigkeit der Brüder Grimm, lässt sich als eine Gegenbewegung zu diesen der Aufklärung zugeordneten Tendenzen lesen.

Inzwischen wissen wir, dass Kinder, die gar nicht oder wenig mit mündlichem Erzählen (oder Vorlesen) in Berührung gekommen sind, sich viel schwerer damit tun, in späteren Zeiten zu lesen, als jene, die aus einer Erzählwelt kommen.

Dennoch ist es wohl ein weiter Weg, bis das Erzählen – nicht nur im kindlichen Zusammenhang – in Deutschland (und in der westlichen Welt insgesamt) – die ihm zustehende Bedeutung wieder erhält.

Die Begegnung mit Kulturen, in denen das Erzählen selbstverständlich, weil die ursprüngliche Form des Ausdrucks ist, kann hier vielleicht hilfreich sein. Für viele Menschen, die vor allem aus islamisch geprägten Kulturen zu uns kommen, ist der begrifflich-analytische Ausdruck, wie wir ihn pflegen eher ungewohnt bzw. nichtsagend. Für sie entsteht Sinn nicht aus der Analyse, sondern er ereignet sich im Erzählen.

Wollen wir mit diesen Menschen ins Gespräch kommen, bleibt uns nichts anderes übrig, als auch unseren eigenen Ausdruck um jene Form des Erzählens zu erweitern. Dabei ist das gar nichts künstlich Oktroyiertes. Mehr als 80% unseres täglichen Sprechens ist eben nicht fakten- und informationsorientiert. Es entspricht damit der Grundfunktion der Sprache, soziale Bindung zum Ausdruck zu bringen oder herzustellen.

Erzählen ist eine der erfolgreichsten Formen dies zu tun, weil in jeder Erzählung der Erzähler anwesend ist – und wenn der Erzähler ein guter Erzähler ist , auch seine Zuhörer anwesend sind.

Für Kinder kann das laute Vorlesen, unterbrochen vielleicht von Rückfragen der Kinder, von emotionalen Ausrufen, von Mitmach-Elementen, ebenfalls eine Möglichkeit sein, Sinnerfahrung durch Worte zu machen. Insofern können Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Büchereien nichts Besseres tun, als Erzähl- oder Vorlese-Events zu schaffen. Gleichzeitig kommen bei solchen „Festen“ auch jene Kinder mit ins Boot, die sich mit schulischem Lernen schwer tun. Das gilt erst recht für jene, die Formen abendländischen Denkens nicht gewohnt sind.

Für die Erwachsenenbildung gilt, dass sie mit Erwachsenen den Wert des Erzählens theoretisch und praktisch erproben sollte, so dass vielleicht auch Erwachsene merken, dass Erzählen keineswegs Kindersache ist, dass durch Erzählen auch ihr eigenes Leben runder wird.

Ein letzter Akzent in dieser Sache: Zeitzeugnisse brauchen Sprache und nicht nur schlichte Daten. Wo Menschen in einem Erzählkontinuum leben, kann es gelingen, Lebenserfahrungen von Menschen auch nachfolgenden Generationen zur Verfügung zu stellen, nicht unbedingt als sogenannte hohe Literatur, sondern als kleine Berichte, als Lebenszeugnisse innerhalb von Familien und Gemeinschaften.


6. Memorierendes und interpretierendes Lesen

(Der Eunuch der Königin von Äthiopien) saß in seinem
Wagen und las den Propheten Jesaja.... Philippus
lief hinzu und hörte, wie er den Propheten Jesaja
las. Er sprach zu ihm: Verstehst du, was du da liest?
 Er antwortete: Wie sollte ich das wohl können,
wenn mir niemand den Weg weist?
Apg 8, 28 ff f

Diese kleine Episode, die in der Apostelgeschichte des Neuen Testamentes erzählt wird, zeigt im Blick auf das Lesen in früheren Zeiten zweierlei:

Erstens: Der Beamte der Königin von Äthiopien liest laut, sonst würde Phillipus ihn nicht hören. Dahinter steckt zweierlei. Zum einen war lautes Lesen lange Zeit die verbreitete Form des Lesens. Man las sich sozusagen selber etwas vor und empfing die Botschaft auditiv – als Erzählung – und visuell – als Lektüre. Dahinter steckt u.a. die Jahrhunderte lange Gewöhnung ans gesprochene Wort. Zum andern galt aber auch nur das gesprochene Wort als wirkmächtig, eine Vorstellung, die sich beispielsweise in der katholischen Liturgie bis zum II. Vatikanum spiegelte.

Zweitens: Auf die Frage des Philippus, ob er denn verstehe, was er lese, antwortet der Beamte fast schon empört mit einer Gegenfrage, wie er das denn wohl können solle, da er doch keinen habe, der ihm beim Verstehen helfe, der ihm sage, was das Gelesene bedeute (ho me hodegesei). Nun ist unvorstellbar, dass der Beamte, ein immerhin gebildeter und offensichtlich auf frommer Mensch nicht den Inhalt dessen erfasst, was er da liest. Eben deswegen liest er ja laut. Verstehen heißt hier offensichtlich, das hinter den Worten Liegende, die tiefere Bedeutung zu ergründen.

In der Weise, wie der Beamte hier liest, handelt es sich um memorierendes Lesen. Memorierendes Lesen dient der Aneignung der Worte und der an die Worte gebundenen unmittelbaren Inhalte eines Textes. Gleichzeitig zeigt sich aber bei dem Beamten das Bedürfnis, zu verstehen, was hinter den Worten liegt, die Zusammenhänge, in denen dieser Text steht, zu begreifen. Und dazu braucht er Hilfe.

Was bei diesem Beamten interpretatorisch von einem Zweiten geleistet wird - und es funktioniert Interpretation nur, wenn sie einen gewissen Wahrscheinlichkeitscharakter hat, denn es ist ja immer der gelesene Text als Korrektiv da -, das leisten wir heute in jedem differenzierten Leseakt. Gleichgültig, ob wir Witze, Dan Brown oder Goethe lesen, wir integrieren den Sinn des Gelesenen in mehr oder minder großem Umfang in das, was wir von der Welt schon wissen. Wir lesen meistens nicht memorierend, sondern interpretierend. Wir beurteilen sogar die Güte eines Textes nach seiner Interpretierbarkeit. Der Literaturwissenschaftler Christian Enzensberger gibt als Definition von Literatur: Literatur sind Texte, die man interpretieren kann. (Literatur und Interesse). Wie aber in dem Beispiel des Beamten der Königin von Äthiopien deutlich wird, ist Interpretation niemals eine monologische Angelegenheit. Interpretation beruht auf Gespräch, auf dem Gespräch mit dem Text und auf dem Gespräch mit dem, was wir später als kulturelles Gedächtnis definieren. Und auch in unserer Kultur gibt es die Hodegeten, die allerdings nicht mehr Wahrheitsanspruch erheben, sondern ihre Interpretation der Vernunft oder manchmal auch der Mehrheit zu stellen haben.

Dieses interpretierende Lesen ist kennzeichnend für die abendländische Form des Lebens. Wir geben uns (meist) nicht damit zufrieden, einfach nur Inhalte aufzunehmen. Wir wollen mehr verstehen. Das macht eine Besonderheit abendländischen Lesens aus und unterscheidet es von vielen Form des Lesens in anderen Kulturen.

Wenn es also hier heißt, das Abendland lese, dann in diesem Sinne: Das Abendland liest interpretierend. Und dieses interpretierende Lesen erstreckt sich längst auf alle Texte, mit denen wir zu tun haben, auch auf unsere Heiligen Texte.

Interpretation ist immer auch ein Spiel mit Bedeutungen. Und dieses Spiel ist im europäischen Kontext bisweilen ein sehr individuelles, damit auch gefährliches.

Gefährlich ist dieses Lesen jedenfalls für jene, die Individualität, und damit Freiheit, beschränken wollen.

Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts haben genau das nicht begriffen – wie frühere Systeme vor ihnen schon nicht. Es gab die Zensur, die beschränkte sich jedoch auf die Inhalte. Doch sind nicht allein die Inhalte der Lektüre gefährlich, schon das Lesen selbst ist es. Denn die Menschen in diesen System haben zwischen den Zeilen gelesen, zwischen den Zeilen der Machthaber und zwischen den Zeilen jener, die durch die Zensur gegangen waren. Im literarischen Kontext lässt sich sogar zeigen, etwa am Beispiel Reiner Kunzes („Das Ende der Kunst“ oder „Kere“), dass es ein interpretatorisches Spiel mit der Zensur gab, das aber nur funktionieren konnte, weil eben nicht memorierend, sondern eben interpretierend gelesen wurde. Und dabei wahr sowohl der Dichter im Spiel wie der Rezipient.

Viele Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, kennen diese Art des Lesens nicht. Den Koran beispielsweise in dieser Weise zu lesen, ist geradezu blasphemisch. Den Koran lesen gläubige Muslim ausschließlich memorierend, Wort für Wort. Natürlich gibt es auch in islamischen Kulturen und bei Menschen, die dem Islam angehören, andere Formen des Lesens. Auch hier beginnt sich die europäische Art des Lesens zu etablieren. Aber gerade diese europäische Art des Lesens wird von vielen, insbesondere strenggläubigen Muslim als gefährlich und als kulturelle Überfremdung empfunden.

Die abendländische Weise interpretierenden Lesens steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der lesenden Entdeckung der Individualität. Beides ist Resultat des Reflexionsschubes, der sich mit dem Lesen eingestellt hat. Dies war schließlich auch die Weise des Abendlandes mit den Religionskriegen und den auch in Europa wohlbekannten Fundamentalismen umzugehen. Die Entwicklung einer säkularen Gesellschaft im Gefolge der Aufklärung wäre ohne diese Art des Lesens nicht denkbar.

Gleichzeitig ist diese Art des Lesens und, wie vielleicht deutlich wurde, des Lebens überaus anstrengend, weil sie Reflexion einfordert. Umso mehr ist verständlich, dass auch in unserer Kultur Menschen sich nach Einfachheit und Eindeutigkeit sehnen. Es ist die heimliche Sehnsucht nach einem so nie gewesenen Paradies, wie unter dem Stichwort „Oratur“ deutlich wurde.


7. Kulturelles Gedächtnis

Der Begriff „Kulturelles Gedächtnis“ ist eine von Jan Assmann in Anlehnung an J. Lotman erneut in Kultur-Diskussion eingebrachte Kategorie. Hintergrund der Überlegungen sind die Untersuchungen von Maurice Halbwachs zum Thema „Soziales Gedächtnis“.

Gedächtnis wird in diesem Zusammenhang nicht im Sinne der Philosophie als Fähigkeit des Menschen, sich zu erinnern, verstanden, sondern umschreibt bestimmte Inhalte, deren auch über den eigenen unmittelbaren Erfahrungshaushalt hinaus von Menschen gedacht wird.

Drei Formen von Gedächtnis(inhalten) werden nach diesem Verständnis unterschieden:

o   Das individuelle Gedächtnis

o   Das soziale Gedächtnis (auch kommunikatives Gedächtnis genannt)

o   Das kulturelle Gedächtnis

Daneben gibt es die Begriffe

o   Erinnerung

o   Gedächtnis (im Sinne der Inhalte)

o   Gedächtnis (im Sinne der Fähigkeit, sich zu erinnern)

Diese drei Begriffe sind am ehesten zu verstehen in der Parallele zur Sprache:

Natürlich spricht das deutsche Volk so wenig wie das französische oder englische. Trotzdem gibt es die Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch. Aber es gibt sie nur solange Menschen diese Sprache sprechen oder lesen. Zu alldem kommt die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zu sprechen.

In der Parallelisierung sieht das dann folgendermaßen aus:

Dem Begriff

o   Erinnerung entspricht                                               gesprochene Sprache
                                                                           „parole“

o   Gedächtnis (im Sinne der Inhalte) entspricht                 konkrete Sprache
                                                                           „langue“ z.B. Deutsch

o   Gedächtnis (im Sinne der Fähigkeit, sich zu erinnern)     die Fähigkeit des Men-
                                                                           schen zu sprechen
                                                                           „Language“

Im Kontext des „kulturellen Gedächtnisses“ haben wir es mit der mittleren Form zu tun.

Neben einer differenzierten Sprache (Nebensätze) ist die Fähigkeit sich erinnern zu können kennzeichnend für den Menschen. Kein anderes Wesen erinnert sich. Erinnerung ist der Kontrapunkt zum dritten Element, das allein dem Menschen eigen ist, nämlich dem Wissen um seinen Anfang und sein Ende, das er vice versa allerdings nur wieder dieser Erinnerung verdankt.

Die Fähigkeit, sich erinnern zu können, die mit der Fähigkeit zur Zukunft korrespondiert, ist das menschliche Antidot gegen die Endlichkeit. Es drückt die Sehnsucht nach Dauer aus und nach Überschreitung der eigenen Existenz. Und wie könnte es anders sein, steht die Fähigkeit der Erinnerung in engem Kontext zu den sprachlichen Fähigkeiten des Menschen (s.u.).

In Kürze seien die beiden ersten Begriffe des individuellen Gedächtnisses und des sozialen Gedächtnisses hier dargestellt.

Das individuelle Gedächtnis umfasst alle jene Erinnerungen, die auf Erfahrungen basieren, die ich selbst gemacht habe, von Kindheit an bis zu meinem Ende. Mit dem Tode erlischt das individuelle Gedächtnis, und Wittgenstein weist zu Recht darauf hin, dass mit dem Tode eines Menschen seine ganze Welt, eine ganze Welt untergeht.

Sobald Menschen anfangen, das was sie erfahren und erlebt haben, dessen sie sich also erinnern, auszudrücken, teilen sie ihre Erinnerungen mit anderen.

Meine Erinnerungen prägen mich und machen mich in Vielem zu dem der ich (geworden) bin. Sie sind ein wesentlicher Teil meiner Identität

Das soziale Gedächtnis umfasst jene Erinnerungen, die in der Kommunikation von Menschen mitgeteilt werden und dadurch auch anderen zur Verfügung stehen. Es sind Kenntnisse, Geschichten, Zeitereignisse, die nicht jeder Einzelne dieser Gemeinschaft erlebt bzw. sich selbst angeeignet hat, über die er dennoch verfügt, mit denen er umgeht und sie so gestaltet, wie sie für ihn gut sind.

An dieser Stelle wird der Konstruktionscharakter solcher Gedächtnisinhalte deutlich.

Der Zeitraum, den das soziale Gedächtnis umfasst, entspricht etwa drei Generationen. Auch das soziale Gedächtnis dient der Identität: Es unterscheidet eine Gemeinschaft von einer anderen: Wer diese Kenntnisse hat, von jenen Geschichten weiß, der gehört dazu. Menschen die von außen in diese Gemeinschaft kommen, Schwiegerkinder beispielsweise im Familienzusammenhang, gehört erst einmal nicht dazu, und ob er je ganz dazu gehören wird, ist fraglich.

So wie das soziale Gedächtnis das individuelle umfängt, so steht auch das soziale Gedächtnis im Zusammenhang mit dem kulturellen.

Das kulturelle Gedächtnis umfasst alle Ereignisse und Gegebenheiten, die eine größere Gemeinschaft, eine Gesellschaft oder ein Gesellschaftsverbund braucht, um sich seine Identität zu sichern, sich unterscheidbar zu machen und den Menschen, die ihm angehören eine „Heimat“ zu geben. Zeitlich ist das kulturelle Gedächtnis kaum begrenzt, allerdings enthält es Brüche und Leerstellen. Das kulturelle Gedächtnis hat Ereignisse und geschichtliche Daten ebenso zum Inhalt wie Kenntnisse und Verhaltensmuster. Es entzündet sich an Orten, Merkmalen oder in Schriftkulturen vor allem am geschriebenen Text.

Während in oralen Kulturen das kulturelle Gedächtnis häufig über Generationen hin sich gleich bleibt, arbeitet in literalen Kulturen die Interpretation am kulturellen Gedächtnis. Es wird immer wieder reformuliert, Neukonstruktionen werden vorgenommen, oftmals auch im Sinne einer bewussten Fälschung. Gerade totalitäre Systeme bedienen sich dieses Mittels. Allerdings gibt es die bewusste Verfälschung durchaus auch in oralen Kulturen, wenn beispielsweise missliebige Herrscher aus dem Gedächtnishaushalt verstoßen werden oder ihnen ein anderes Image zugesprochen wird, ihnen Taten zugewiesen werden (typisch: Inzest, Vatermord), die sie zwar nicht begangen haben, die aber die gegenwärtige Dynastie umso besser dastehen lässt. In Ägypten haben wir es beispielsweise bei Echnaton mit einem solchen Phänomen zu tun. Er wurde nach seinem Tod aufgrund seiner neuen Form des Kultes – vermutlich durch die Priesterkaste – aus dem Gedächtnis der ägyptischen Tradition gelöscht.

Weil sich in Schriftkulturen das kulturelle Gedächtnis eng an die Schrift bindet, neigen Schriftkulturen zur Kanon-Bildung. Der Kanon umfasst alles, was Gültigkeit haben soll in dieser Kultur.

Da wie wir gesehen haben, Schriftkulturen abendländischer Provenienz ihre eigene Entmythologisierung in sich tragen – es lässt sich ein solcher Bogen von der Adaption der Schrift über die griechische Aufklärung des 5. und 4. Jahrhunderts vor Chr. bis zu europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts schlagen – wird irgendwann aber sogar die Kanonbildung obsolet.

Gesellschaft pluralisiert sich und damit wird das kulturelle Gedächtnis dieser Gesellschaft zu einem offenen Kontinuum. Und dennoch gibt es Grundlagentexte, kulturelle Wurzeln also, die notwendig sind, um die eigene Kultur überhaupt zu verstehen, erst recht um in ihr leben zu können. Die Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums gehören sicher dazu, viele Texte der griechischen Antike, der römischen Antike. Vor allem aber sind es inzwischen literarische Texte, in denen sich unsere Kultur ihr Gedächtnis bewahrt.

Gegen die Diffusität des kulturellen Gedächtnisses gibt es zunehmend mehr auch Widerspruch. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an immer häufiger erscheinende Anthologien, vor allem aber an die tatsächlich Kanon geheißenen Sammlungen, die von Marcel Reich-Ranicki verantwortet werden.


8. Sprache, Literatur und Erinnerung

Von Karl Krauss gibt es den schönen Satz: „Je näher ich ein Wort anschaue, umso weiter schaut es zurück.“ Wir verwenden ja nicht nur unsere Sprache, um unsere Erinnerungen mitzuteilen, unsere Erinnerungen lagern sich auch in den Worten und Strukturen unserer Sprache ab. Die Etymologie gibt uns  zum Beispiel über die Wortgeschichte Auskunft. Und eine der schönsten Etymologien ist die des Wortes „Mensch“.

Das deutsche Wort „Mensch“ ist verwandt mit dem griechischen Mnemosyne und Anamnesis und mit dem lateinischen Memento. Nach diesem etymologischen Befund ist der Mensch jenes Wesen, das Erinnerung hat.

Aber auch die Grammatik bewahrt Erfahrungen auf, unsere Zeitwörter beispielsweise, die uns darauf aufmerksam machen, welche Bedeutung in einer agrarischen Gesellschaft die Zeit hat, die mit Hilfe der Tempora ein ganz bestimmtes Verständnis von Geschichte evozieren, das in anderen Sprachen, z.B. den semitischen ganz anders ist. (vgl. Kulturelles Gedächtnis)

Als Beispiele dürfen hier die unterschiedlichen Formen des Geschichtsverständnisses gelten, die zwischen Gleichzeitigkeit und Abgeschlossenheit hin und her gehen und den interkulturellen Dialog z.B. zwischen Menschen aus indogermanisch und aus semitisch geprägten Kulturen nicht gerade erleichtern. (Wenn dann noch eine Geschichte hinzukommt, wie sie sich in der Shoah manifestiert, dann wird es noch einmal schwieriger.)

Mnemosyne war den Griechen die Mutter aller Künste. Und tatsächlich gäbe es keine Kunst, kein Epos, keinen Roman, nicht einmal ein Bild ohne unsere Fähigkeit zum Erinnern. Diese Nähe von Literatur und Gedächtnis ist mit der Arbeit an der Sprache das zentrale Merkmal von Literatur. (Zum Zusammenhang von Erinnern und Wahrnehmen: vgl. Kulturelles Gedächtnis)

Literatur ist in zweifacher Weise mit dem Erinnern verwandt: Zum einen ist die Literatur durch ihre Themen und Inhalte ein Erinnerungsreservoir, und zwar nicht im Sinne der Geschichte, sondern im Sinne der Kristallisierung menschlicher Erfahrungen. Zum andern spürt sie der Sprache selbst nach, die ja anders als Steine oder Töne selbst ein am Menschen gewachsenes Medium ist.

Wer also im abendländischen Sinne Literatur liest, der begegnet sich, wie Paul Celan in seiner Büchnerpreisrede schreibt, selbst, er begegnet nämlich dem Menschen in seiner Geschichte. Und er eignet sich auf seine ganz eigene Weise diese Geschichte und damit die sie umspannende Kultur an.

Orte, an denen in diesem Sinne gelesen wird, sind immer Orte des Menschen, Orte an denen Menschen sich selbst begegnen. Es sind damit zugleich auch Orte, an denen abendländische Kultur lebt.


9. Die Bibliothek als Speicher kulturellen Gedächtnisses

Bibliotheken scheinen gefährlich zu sein. Die Geschichte der berühmtesten Bibliothek der Antike, die zu ihren Hochzeiten bis zu 700.000 Papyrusrollen umfasst haben soll, macht das deutlich: 391 wurde sie zum erstenmal, so wird auch in ernstzunehmenden Werken gelehrt, gründlich zerstört, damals von Christen im Auftrag des Kaisers Theodosius, offensichtlich weil das dort gelagerte Gedankengut, das kulturelle Gedächtnis der Antike, dem neuen Glauben der Christen nicht entsprach bzw. weil die Bibliothek als Musentempel heidnischen Göttern gewidmet war. 250 Jahre später wurde die Bibliothek dann, so geht die Sage, von Muslim endgültig vernichtet, man benutzte die Papyrusrollen angeblich zum Heizen der Badehäuser. Die Begründung dieser Vernichtung verdient es wörtlich zitiert zu werden: „Was die von dir erwähnten Bücher angeht, hier ist meine Antwort: Falls ihr Inhalt dem Buche Allahs gemäß ist, können wir ohne sie auskommen, denn in diesem Fall ist das Buch Allahs mehr als ausreichend. Falls sie andererseits Angelegenheiten betreffen, die nicht mit dem Buche Allahs übereinstimmen, so gibt es keinen Bedarf, sie zu erhalten. Also gehe hin und vernichte sie.“

Was hinter dieser Begründung steckt, ist vermutlich historisch nicht haltbar, es zeigt aber die Perpspektive der Mächtigen. (vgl Essay SZ)

Bevor wir nun in neuzeitlich-europäischer Überheblichkeit uns über diese zumindest gut erfundenen Geschichten grausen, sei gleich daran erinnert, dass gerade das Komitee für Wiederaufbau im Namen der französischen Revolution einen Teil der Bibliotheque Nationale vernichtete. Und in Deutschland brannten die letzten Bücher aus durchaus vergleichbaren Gründen vor nicht einmal hundert Jahren.

E contrario lässt sich daraus schließen, dass es offensichtlich Systeme gibt, die vor Büchern Angst haben und die Bücher für mindestens so gefährlich halten wie widerständige Menschen. Wort und Mensch scheinen sich gegenseitig vertreten zu können, bis in die Vernichtung hinein, wobei die Vernichtung des einen immer die Vernichtung des anderen zur Folge hat.

Übrigens gibt es offensichtlich immer noch Institutionen, die meinen, mit Verbot oder Vernichtung von Büchern – selbst in unserer Gesellschaft – Ideologien oder auch Wahrheiten durchsetzen zu können. Ich erinnere an jenen römischen Kardinal, der Dan Browns Sakrileg am liebsten auf den Index gesetzt hätte oder an die muslimischen Urteile gegen die Bücher und die Person eines Salman Rushdy.

Nicht erst heute gewinnen jedoch verbotene Bücher an Wahrheitsgehalt, selbst wenn sie offensichtlich fröhlicher Fiktion entstammen und nichts wollen, als einfach spannend sein.

Wer interpretierend liest, bezieht immer den Kontext, den sozialen, geschichtlichen und politischen Kontext, in seine Interpretation mit ein.

Angesichts solcher Geschichten stellt sich für eine plurale Gesellschaft – selbst auf kleinstem Raum – die Frage, welche Bedeutung eine Bücherei in einem Gemeinwesen hat.

Die Antwort fällt nach allem, was bisher gesagt wurde, leicht: Als Orte der Lektüre sind Büchereien in einer säkularen Gesellschaft wie der unseren unverzichtbar. Sie bieten den Menschen eines Gemeinwesens die Möglichkeit jene Fähigkeiten zu lernen und zu trainieren, ohne die unsere Gesellschaft weder entstanden wäre noch Bestand hätte. Gleichzeitig sind Büchereien Orte, an denen ein gewaltiges Wissen angehäuft ist. Nicht nur ein funktionales Wissen – in Form von Sachbüchern, sondern vor allem ein Wissen um den Menschen, auch in Sachbüchern, vor allem aber in literarischen, geisteswissenschaftlichen und auch religiösen Texten.

Eine säkulare Gesellschaft, die sich Bibliotheken nicht mehr leisten mag, arbeitet an ihrer eigenen Abschaffung. Sie verwirft einen großen Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und verliert damit einen wesentlichen Teil ihrer kulturellen Identität.

Und auch für Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, gewinnen die Büchereien an Bedeutung, wenn sie dort vorfinden, was sie suchen: Geschichten und Berichte auch aus ihrer Kultur.

Gefährlich bleiben Bibliotheken und Büchereien allemal. Nicht weil sie brennen können, sondern weil sie im Lesen Menschen jene Anstrengung auch der Reflexion abfordern, die Voraussetzung ist für die Teilhabe an einer säkularen Gesellschaft. Und diese Fähigkeit der Reflexion richtet sich gegen jegliche Form nicht vereinbarter Autorität – jedenfalls auf Dauer gesehen.

Wenn nun klar ist, dass ein demokratisches Gemeinwesen ohne Bücherei nicht auskommt, dann stellt sich umgekehrt die Frage, welche Aufgaben eine Bücherei – im Sinne des kulturellen Gedächtnisses – für das Gemeinwesen wahrnimmt.


10. Leseförderung als Aufgabe

Die Stadtbücherei als Speicher nicht nur für Buchstaben und Worte, sondern als Speicher für kulturelles Gedächtnis tut um ihres Selbsterhaltes willen gut daran, alles zu unternehmen, damit Menschen zum Lesen finden.

Dass Büchereien seit mehr als 2000 Jahren für unsere Kultur bedeutsam sind – gerade als Speicher[1] kulturellen Gedächtnisses - , ist heute unumstritten.

Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die Lesen für eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft hat, kommen für die Bücherei aber weitere notwendige Aufgaben ins Blickfeld.

Eine Stadtbücherei erfüllt mit der Förderung des Lesens nicht nur einen kulturellen, sondern zuvörderst einen politischen Auftrag. Büchereien sind qua Buch in demokratischen Systemen eine Selbstverständlichkeit. Sie helfen dabei mit, Menschen die Partizipation in einer säkularen, pluralen und demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen.

Grundsätzlich ist Leseförderung eine gesellschaftliche Grundaufgabe. Die Stadtbücherei kann hier wesentliche Funktionen und Netzwerkaufgaben übernehmen:

Es beginnt schon im frühen Kindesalter. Wir wissen (s.o.), dass ohne eine vorgängige mündliche Sinnerfassung Literalität nicht zu haben ist. Also liegt es im Interesse der Gesellschaft, dass es Orte gibt, an denen erzählt und vorgelesen wird. Dabei geht es nicht um ein hoch professionelles Vorlesen oder Erzählen, sondern darum, das Kinder die Erfahrung machen können, wie schön es ist zuzuhören, im Zuhören in Beziehung zu sein und Sinn aufzunehmen – selbst wenn dieser Sinn Unsinn (also verkehrte Welt) ist.

Fortbildungen bzw. Informationsveranstaltungen für Erzieherinnen, Darstellungen des Bestandes an Kinderbüchern, Hinweise auf Neuerscheinungen von Kinderbüchern gehören ebenfalls dazu. Dabei ist klar, dass eine Stadtbücherei mit dem (wenigen) Personal, dass ihr zur Verfügung steht, mit alldem überfordert ist. Deswegen wird es notwendig sein, mit Bildungsträgern zu kooperieren.

Dazu gehören die einschlägigen Berufsverbände, vor allem aber die Schulen, die Volkshochschule, die Bildungswerke der Kirchen.

Selbstverständlich gehören Lesungen zum Programm einer Bücherei, allerlei Verführungsmaßnahmen zum Lesen ebenfalls.

Und gerade jene Menschen, für die der Kauf von Büchern eine finanzielle Hürde darstellt, sollten (kostenlosen) Zugriff auf den Bestand der Bücherei haben. Dass das in nicht-diskriminierender Weise geschieht, muss wohl nicht sonderlich erwähnt werden.

Der Kreativität der Leseverführung sind keine Grenzen gesetzt. Märchenabende, Fantasy-Nächte oder für Erwachsene vielleicht mal die lange Nacht der offenen Bücherei?

Leseförderung als gesellschaftliche Aufgabe dient nicht zuletzt auch dem interkulturellen Dialog, dient auch der Integration von Menschen aus anderen Kulturen in unsere Kultur, ohne dass sie dabei ihre kulturelle Identität aufgeben müssten.

Die Aufgaben einer Bücherei gehen wohl über die Beschaffung, Erhaltung und Organisation des Buchbestandes weit hinaus. Im besten Sinne sind die Bücherei und ihre Mitarbeiter/innen Advokaten der Schrift, der Texte und des Lesens und damit unentbehrlich im Konzert gesellschaftlicher Aufklärungsmaßnahmen.

Politiker, die denken können, also offensichtlich selber lesen, werden es einer solchen Bücherei wohl kaum an Unterstützung fehlen lassen können.


[1] Wie schön, dass die Stadtbücherei im Kornhaus untergebracht ist.