Literatur und Religion: Fremdes, Anderes, Eigenes

1. Literatur – Religion – Glaube

frage- und rufzeichen

ein fragezeichen sollte sich nicht in ein rufzeichen verlieben, aber es geschah. vielleicht weil sich gegensätze anziehen, vielleicht weil das etwas pummelige frage­zeichen einfach für alles schwärmte, was schlank ist. liebst du mich, fragte erwartungsgemäß das fragezeichen das rufzeichen? ja, donnerte es zurück, dass das fragezeichen vor schreck erzitterte, warum musst du so brüllen, fragte das fragezeichen. ich brülle nicht, sagte das rufzeichen, ich betone nur. und willst du auch kinder, fragte das fragezeichen kleinlaut? ja, aber nur solche, die sich klar ausdrücken, sagte das rufzeichen, die deutlich sprechen und nicht dauernd alles in frage stellen. diese ewige fragerei würde mir ganz schön auf die nerven gehen. aber die intelligenteren sind doch die, die alles in frage stellen, erlaubte das fragezeichen einzuwenden. was heißt hier intelligenz, brüllte das rufzeichen, meine sache ist es, alles zu betonen, was betont werden soll. das ist meine pflicht. und ich erfülle meine pflicht, wie es vielleicht deine ist zu fragen. was heißt hier pflicht, sagte das fragezeichen, krümmte den rücken und zeigte wie eine schwangere den bauch: was du betonst ist Vergangenheit, ist bestenfalls gegenwart, ich aber trage die zukunft in mir.

Friedrich Achleitner

Rufzeichen und Fragezeichen: Das könnte stehen für Religion, wie sie sich kirchlich darstellt, und Literatur, wie sie gegenwärtig erscheint. Religion in Deutschland, wie sie gerade gesellschaftlich wahrgenommen wird, ist so etwas, wie ein entfaltetes Rufzeichen: Lehrinhalte und Lebenshaltungen werden häufig mit erhobenem Zeigefinger (Rufzeichen) verkündet. Fragen sind eigentlich allenfalls der Theologie vorbehalten und dort eher lästig. Dass eine der meist gelesenen evangelischen Theologinnen, Dorothee Sölle, in Deutschland nie einen Lehrstuhl innehaben konnte, spricht dafür, auf katholischer Seite finden sich ähnliche Beispiele zuhauf (z.B. Kuno Füssel) und auf islamischer Seite steht der Münsteraner M. Khorchide für die Schwierigkeit des Verhältnisses zwischen fragender Theologie und antwortenden Religionsverwaltern.

Und dass die religiösen Institutionen am liebsten immer noch Kinder hätten, die nicht alles in Frage stellen, lässt sich an den Schwierigkeiten der Institutionen mit ihren ungeliebten Kindern (Basisgemeinden samt Befreiungstheologie, Kirche von unten oder Achmadiyya) unschwer ablesen.

Religion, wie sie von den Institutionen vertreten wird, will immer noch (funktionaler Religionsbegriff) Kontingenzbewältigungspraxis für handlungssinntranszendente Kontingenzen sein (Lübbe), also ein Sinnkonstrukt liefern, in dem Menschen unbefragt sich ihr Leben einrichten können. Im Sinne des Gehlenschens Institutionsbegriffes müssen solche Institutionen unbefragt und unbefragbar bleiben, weil sie sonst ihre (Definitions-)Macht verlieren.

Zukunftsfähig sind Institutionen, die sich immer noch so verstehen, in einer pluralen, der Aufklärung noch verpflichteten Gesellschaft nicht, auch wenn es so scheint, als lieferten sie für viele Menschen weiterhin ihren Beitrag zur Komplexitätsreduktion.

Die Welt ist aus den Fugen. Nach Ansicht vieler Zeitgenossen trifft das in beiden Bedeutungen des Wortes zu: Ihre äußere Ordnung ist zerbrochen, ihr innerer Zusammenhalt verloren gegangen. Wir irren ziel- und orientierungslos umher, argumentieren für und wider. Die eine Feststellung jedoch, auf die wir uns jenseits aller Unterschiede und über alle Kontinente hinweg zumeist einigen können, lautet: »Ich begreife die Welt nicht mehr.« (Beck 2017,11)

Was die Literatur in einer solchen Gesellschaft angeht, so wird ihr zwar immer wieder die Etablierung mit Religion konkurrierender Sinnkonstruktionen zugesprochen. Genau das leistet sie wie alle anderen Gegenwartskünste aber längst nicht mehr, hat es vielleicht nie leisten können und wollen. Literatur, und schon davor die Dichtung, war platonisch gesprochen immer schon ψeudoς, also Irrtum oder Lüge, besser sprechen wir von Fiktion.
Das galt bereits für Ilias und Odyssee, für die Äneis, das gilt ebenso für Grimmelshausens Simplicissimus wie für Kehlmanns Tyll, selbst wenn uns all diese Texte glauben machen wollen, sie seien historischer Natur. Und das gilt gleichermaßen für Prosa, Lyrik und Drama. Das gilt sogar für sogenannte Autobiographien, deren Sinnkonstruktionen erkennbar immer Konstruktion sind.

Gleichwohl haben Erzählen, Singen und dramatisches Spiel durchaus Auswirkungen auf das reale Leben, nur eben nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund des Prozesses selbst:

Manchmal denke ich, dass die Geschichten einander besser kennen als die Erzähler: Texte rufen und antworten, Figuren sind miteinander im Gespräch, es gibt ein riesiges Beziehungs­geflecht von unerhörten Begebenheiten, Happy-Ends, Anekdoten, Krankengeschichten, Romanen, ohne dass ihre Wege genau zu verfolgen sind. In diesem Geflecht sind wir mehr zu Hause als im eigenen Garten. Erzählen ist innerer Wohnungs- und Städtebau. Es ist ins Zeitliche gewendete Architektur, schafft Grundlagen für alle Fragen und Entscheidungen, heilt von Demütigungen, macht sogar hin und wieder augenzwinkernd Fehlschläge zu Erfolgen. Vor allem ist es das große, das überragende Mittel gegen Einsamkeit.
Wer eine Geschichte zu erzählen hat, ist ebenso wenig einsam wie der, der einer Geschichte zuhört. Und solange es noch irgendjemand gibt, der Geschichten hören will, hat es Sinn, so zu leben, dass man eine zu erzählen hat. Man könnte das eine »Geschichten-Währung« nennen. Das Gold bekam im Mittelalter nur deshalb als allgemeines Zahlungsmittel wieder Bedeutung, weil es jemanden gab, der etwas damit anfangen konnte: die Kirche beim Bau neuer Gotteshäuser. Die Zigarettenwährung nach dem Krieg funktionierte auch für Nichtraucher, aber nur weil es Raucher gab. Und auch Geschichten hört man oft allein mit dem Interesse derjenigen Menschen, an die man sie besonders gern weitergeben wird.
Das Erzählen trägt uns wie die See den Seemann: nichts wird durch sie sicherer, nur er selbst.

Nadolny1988

Dichtung und Literatur sind in erster Linie Sprachgeschehen und Spiel. Und wie Kinder im Spiel ihre Kompetenzen auf die Welt hin und auf ihr Leben erweitern, so erweitern auch Menschen, die sich auf Dichtung und Literatur einlassen, ihre Welt- und Selbst-Kompetenz, in sprachlicher Hinsicht. Sie stärken ihren Möglichkeitssinn. Wie genau und was da geschieht, darüber wird noch zu sprechen sein.

Festzuhalten bleibt aber: Literatur/Dichtung weiß wissenschaftlich gesehen nichts über die Welt, jedenfalls nicht mehr als jeder andere Mensch der Zeit, auch wenn viele Literaten meinen, sie wüssten Sinnstiftendes zu sagen. Was für die Künste insgesamt gilt: »Bilde Künstler, rede nicht!« (Goethe)[1], das gilt gerade für  die Literatur: Sprich, Dichter, rede nicht. Denn »wer spricht, redet nicht. Der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand.« (Celan 1959). Das ist der Goethesche Hauch.

Celans Hinweis scheint die Dichtung in die Nähe einer Religion zu führen, die um den Verlust Gottes weiß. Nur entstammt dieser Hinweis einer kleinen Erzählung, dem »Gespräch im Gebirg«. Damit gehört auch dieser Hinweis dem Reich des Fiktionalen an, der Welt des »als ob«.

Dass literarische/dichterische Texte Hörerinnen und Leser in nichtexistierende Welten entführen, wurde ihnen vor allem im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert immer wieder vorgeworfen. Vielfach galt die Lektüre solcher Texte als nicht wünschenswerter Zeitvertreib, da nicht funktional und nicht materiell fruchtbar. Das gilt insbesondere für Teile der männlichen Bevölkerung bis heute[2].

Wenn Literatur/Dichtung eine Wirkung hat, dann die, erfahrbar zu machen, dass es die Möglichkeit von Sinnkonstruktion gibt. Wer in einem erzählten Text beispielweise die Erfahrung macht, dass dort Ereignisse nicht kontingent, sondern aufeinander bezogen sind, der wird u.U. auch im eigenen Leben oder gar in der Geschichte nach solchen Zusammenhängen, Kausalitäten oder Abhängigkeiten fragen und suchen. Das gilt übrigens auch, wenn Texte eine deutliche Fragmentierung von Wirklichkeit artikulieren.

Entscheidend für literarisches Arbeiten ist aber immer die Spracharbeit. Im Sprechen und Schreiben der Dichtung/Literatur wachsen der Sprache neue Wörter zu, erweitert sie sich im metonymischen[3] oder metaphorischen[4] Sprachgebrauch, entwickelt sogar häufig auch neue Strukturen oder erweitert die eigenen (z:B. die Einführung von sechs Tempora im Deutschen zur Zeit Karls d.Gr.)). Und wenn wir Sprechen nicht nur als Artikulation verstehen, sondern auch eine Form von Wahrnehmung dann erweitern sich durch Dichtung/Literatur Kommunikations- und Wahrnehmungsräume. Das allerdings geschieht unter der Hand, also nicht immer in reflektiertem Sinne. Beispiele im Bereich der Deutschen Sprache sind etwa die Texte der MystikerInnen (Findung einer Sprache für die Seele/Psychologie), die wohl eher literarische Qualität haben und auch deswegen theologisch oft als verdächtig galten, es ist die luthersche Übersetzung der Bibel, es sind neuerer Zeit aber auch Autoren wie Celan oder Grass, die unserer Sprache Neologismen beschert und ihr Erinnerungsvermögen erweitert haben. Propaganda und Werbung haben leider ähnliche Auswirkungen, allerdings ohne das kritische Potential, das der Literatur innewohnt.

Was nun »Glauben« angeht, so sind Inhalte eher weniger Gegenstand des Glaubens, das verbindet ihn mit der Literatur. Etymologisch ist das Wort Glauben mit dem Wort Lieben verwandt, in ähnlicher Weise wie Grüßen und Heißen verwandt sind: Glauben meint nach diesem Befund, den Wunsch, die Hoffnung und die Bitte geliebt zu werden. Glauben impliziert immer ein Du, wenn dieses Wort nicht als falsches Ersatzwort für meinen oder für wahr halten benutzt wird. Das gilt so für die Deutsche Sprache, andere Sprachen bringen das Wort für Glauben in die Nähe von Vertrauen. So wird es übrigens auch im Deutschen häufig gebraucht: »Ich glaube dir« meint eigentlich ja: »Ich vertraue dir« und »Ich glaube an dich« meint »Du wirst mich nicht enttäuschen«.

Im Folgenden wird »Glauben« immer wieder mit thematisiert werden, vor allem geht es um literarische Texte und Religion.-Und wenn hier von Religion die Rede ist, dann kritisch im funktionalen Sinn einer transzendierenden Kontingenz-Bewältigung, perspektivisch hingegen im quasi ontologischen Sinne, wie es Paul Tillich beschreibt:
»Religion ist, was mich unbedingt angeht.« Problematisch könnte an einem solchen Religionsverständnis sein, dass es wohl kaum Menschen gibt, die nicht etwas kennen, das sie unbedingt angeht. Ein ontologisches Religionsverständnis ist immer auch ein vereinnahmendes: Religion gehört danach konstitutiv zum Menschsein dazu. Es gibt niemanden, auch keine Agnostiker oder Atheisten, die nichts unbedingt angeht. Und wenn es eben Niemand und Nichts ist.

Die andere Problematik besteht darin, dass das Unbedingte etwas sein könnte, das mit Welt und Mensch, mit Gesellschaft und Politik nichts zu tun hat, etwas ganz und gar Privates, Innerliches und/oder Überweltliches.
Deswegen an dieser Stelle Adornos Warnung:

Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.
Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muss, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet, um des Unbedingten willen, um so bewusstloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muss er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.

Adorno, Minima Moralia

Das Wort »Erlösung«, das Adorno hier einführt und das er im philosophischen Gebrauch bei Walter Benjamin entlehnt hat, mag als Aussage der Religion, als Vorstellung der Literatur angehören. Als Bedeutung und Wirkung gehört es der Sphäre des Glaubens an. Allerdings dient es auch hier nicht der reinen Subjektivität. Sondern als Anrede.

Was Psalmen von Gedichten unterscheidet, ist genau das: Gedichte sind immer die Fiktion einer Anrede, Psalmen wollen anreden und reden an. Selbst Gedichte, die als Gebet daherkommen, sind keine Gebete. Celans »Psalm« etwa ist kein Psalm: »Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm…«. Und am Ende steht der leidende Mensch als König da, (»die Krone rot«) und das Gedicht als Überwindung des Betens (»über, o über«).

Da ist keine Transzendenz, sondern Erlösung gesprochen als ein »ich weiß nicht«, als ein »als ob«. Und selbst wo Gedichte sich der Form des Gebetes nähern (Mörike: »Herr, schicke, was du willt« oder Celan: »Bete Herr, bete zu uns«) sind sie eben doch keine Gebete, sondern zitieren, nutzen die Kraft der Gebetssprache von früher her (bei Mörike in der Anspielung aufs Mittelhochdeutsche) und erinnern damit an Möglichkeiten, die zu verwirklichen sie nicht in der Lage sind. Immer aber sind solche Texte eine Irritation des Alltagssprechens, das sie unterbrechen und befragen.

Was Religionen über Gott sagen, sind Lehrworte. Über Gott lässt sich aber nicht lehren. Es sind Leerworte. Jede Aussage über Gott, die nicht Beziehungsaussage ist und damit nicht mehr über sondern mit Gott handelt, wird zu einer solchen Leeraussage.

Religion scheint hier schlecht wegzukommen. Das ist falsch. Es braucht Religion als Moment des sozialen und kulturellen Gedächtnisses. Und damit ist die institutionalisierte Religion gemeint. Wie diese zu leben und zu gestalten sei, wie ihr Verhältnis zum Glauben sein könnte, das ist eine andere Geschichte, um die es hier nicht gehen kann.

Es braucht jedenfalls Orte, Zeiten und Räume des Erinnerns. Und es braucht dafür auch Bibliotheken der Bewahrung und Sprachschatztruhen für das Gedächtnis. Unser deutsches Erinnern ist ein reflexives Verb: »Ich erinnre mich an…«. (Nicht ich erinnere etwas). Wer sich erinnert, fügt seinem Ich etwas aus dem sozialen oder kulturellen Gedächtnis hinzu.[5]

An dieser Stelle gib es dann die Verbindung zur Literatur und zur Dichtung: Auch sie lebt von diesem aus dem kulturellen Gedächtnis Hinzugefügten. Und sie weiß um die Kraft der Motive und Worte, die von dort kommen. Deswegen nutzt sie sie (wie übrigens auch die Werbung oder die Sprache der [politischen] Propaganda).

Manchmal vermuten Theologen in den Literatinnen und Dichtern die gegenwärtigen Propheten. Das sind sie keineswegs. Propheten waren und sind auch heute jene, die die Zeichen der Zeit erkennen, die aber in dieser Erkenntnis nicht verharren, sondern sie im Licht ihres Glaubens, also unter dem Aspekt der Beziehung, extrapolieren. Auch die Prophetien der Bibel sind Prophetien ex eventu, mit einer Ausnahme: Jona. Aber Jona ist Literatur, Dichtung: Die Jona-Geschichte ist Sprache und Deutung aus dem Glauben: Deswegen hat sie Eingang gefunden in die Bücher der Bibel. Oder besser: Deswegen ist Jona den Glaubenden bis heute wichtig. Er mag eine Witzfigur sein, aber er zeigt den Aspekt der Gnade. Und Gnade ist nichts anderes als die erhoffte und manchmal unverhoffte Antwort auf Glauben. Gnade meint in ihrem Ursinn »Zuneigung«. »Die sunne gie ze gnaden« - »Die Sonne neigte sich nach unten« heißt es in einem alten Gedicht (Grimm).

Es gibt aber auch die andere Form der Prophetie in der europäischen Erinnerung, auch diese wie Jona eine literarische Gestalt. Christa Wolf hat ihr ein faszinierendes Buch gewidmet. Das ist Kassandra. Während Jona prophezeit, die Menschen Ninives das ernst nehmen und entsprechend sich verhalten und damit die Gnade Gottes erhalten und die Prophezeiung ungültig machen, spricht Kassandra Prophezeiungen aus, denen niemand glaubt, die aber (vielleicht deshalb) sowohl in Troia wie im Haus des Agamemnon vollständig in Erfüllung gehen – nicht nur dort, sondern überhaupt.

Beide Gestalten sind Gestalten der Fiktion: Jona ist erzählt und Kassandra ist nur als erzählte, als epische Gestalt da. Dennoch lässt sich vielleicht an diesen beiden ProphetInnen-Gestalten ablesen, was Literatur und Religion/Glauben unterscheidet: Glauben hofft, hofft auf Gnade, hofft auf eine wie auch immer gestaltete Erlösung, auf ein wirkendes Du. Und deswegen erzählt diese Geschichte von Menschen, die geliebt und nicht vernichtet werden wollen. Kassandra ist wohl die Gestalt der Dichtung: Sie droht nicht, sie weiß, was kommt. Es wächst ihr zu aus Apolls und damit der Musen Fähigkeit. Aber ihr Sprechen wird als ψeudoς  verstanden, als Lug und Trug. Und damit wird es als Prophetie unwirksam. So arbeitet die Literatur. Da bleibt doch die Frage, warum es sie immer noch gib.

Vielleicht weil sie unentwegt fragt und damit doch Zukunft insinuiert?

Zukunft? Wer Amen sagt, womöglich gar am Ende des Vaterunser, überschreitet dieses Fragen. Er oder sie sagt: »So soll es sein, so muss es sein, so wird es sein« (Wolf Biermann). Nur ist das Sollen, Müssen und Werden ein Überschreiten des eigenen Sprechaktes und der eigenen Handlungskompetenz. Sie ist und bleibt verwiesen auf etwas, das der Glaubende und die Gläubige Gnade nennt, Gnade woher auch immer, doch von einem Du, das auch Niemand heißen kann.

2. Das Treffen in Telgte oder
    Ein dreifacher Anfang der deutschsprachigen Literatur


Benjamin Neukirch 1697

Es ist kein Zufall, dass Günter Grass sein Dichtertreffen in Telgte ausgerechnet im letzten Jahr des dreißigjährigen Krieges ansiedelt: 1647. Das Buch erschien zu Hans Werner Richters 70. Geburtstag, veröffentlicht wurde es ein Jahr später im Jahre 1979.

1647 war Martin Opitz, der mit seinem kleinen Buch von der Deutschen Poeterey 1624 für den Anfang einer neuen deutschen Literatur sorgte, bereits tot († 1639). Es wäre allerdings das Jahr seines 50. Geburtstags gewesen. Also konnte Grass Opitz nicht am »Treffen in Telgte« teilnehmen lassen, wohl aber Simon Dach (* 1605, † 1659), ein bezeichnender Name, war er es doch, der eingeladen hatte, wie es die Erzählung will, erst nach Oesede, dann, weil Oesede besetzt war, nach Telgte. Gryphius, Scheffler, Gerhardt – um nur einige zu nennen – sind da, und es geht um nicht weniger als um die Bedeutung der deutschsprachigen Literatur in Zeiten des Krieges und Nachkrieges. Denn längst hatten sich die Kriegsparteien in Münster und Osnabrück versammelt, allesamt erschöpft von Krieg und Seuchen, um über eine künftige Friedensordnung zu beraten.

Tatsächlich lässt sich feststellen, dass Literatur, wie wir sie heute kennen, einigermaßen frei und in deutscher Sprache geschrieben, lesbar für viele – zumindest aus dem Bürgertum – ihren Anfang zu Zeiten des dreißigjährigen Krieges nahm. Zu dieser Zeit begann man sich auf die Sprache zu besinnen, die allen Kindern mitgegeben und von allen irgendwie beherrscht war.

Längst gab es in Italien (seit dem 14. Jahrh.), Frankreich und England eine Literatur und Dichtung in vernakularer Sprache. Nur im deutschsprachigen Raum wurde nicht auf Deutsch gedichtet und philosophiert, sondern auf Neulatein.

Aber mitten im Krieg entstanden plötzlich Gesellschaften, in denen es um die Entwicklung der deutschen Umgangssprache zur Dichtungssprache ging. Und Opitz war nicht der Erste, aber der folgenreichste Verfasser einer deutschen Poetik.

50 Jahre später (1697) hatte sich diese Sprache soweit entwickelt, dass manche glaubten, das Deutsche sei die eigentliche Dichtersprache, und damit gleichzeitig die Dichtung anderer Völker abzuwerten begannen (s.o. Benjamin Neukirch).

Einen weiteren Schub in Richtung Weiterentwicklung deutschsprachiger Literatur gab es übrigens etwa 150 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege in Deutschland.

1947 gründete durch schlichte Einladung an einige Schriftsteller/innen Hans Werner Richter die Gruppe, die später nach dem Jahr »47« genannt wurde. Sie sollte der bestimmende literarische Zirkel in Deutschland werden.

Das Treffen in Telgte ist ein historisch verschlüsseltes Abbild dieser Gruppe, zu der neben Richter auch Reich-Ranicki als Kritiker, Böll, später auch Grass und zumindest zweitweise eine ganze Reihe anderer bekannter wie unbekannter Autor/innen gehörte (Dach = H.W. Richter, Grass versteckt sich selbst in der Figur des Gelnhausen [i.e. Grimmelshausen]).

Auch dieser Gruppe ging es um einen Neuanfang deutscher Literatur nach der selbstgemachten Katastrophe nicht nur des Krieges und des Nationalsozialismus, der Shoah und der Kriegsverbrechen, sondern auch vor dem Hintergrund einer ideologisierten und depravierten deutschen Sprache, die verdorben war von der Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer).

Im »Treffen in Telgte« verfassen die Dichter eine Art Resolution, in der sich der »Satz vom bleibenden Vers« findet: »Und wenn man sie steinigen, mit Haß verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen«. Neben dem hohlen Pathos dieses Satzes gibt es im Buch allerdings auch den Hinweis auf die Distel als Symbol der Literatur: Unkraut, stachelig, aber unverwüstlich. Und am Ende brennt der beherbergende Gasthof ab und das ganze Dichtertreffen bleibt eher folgenlos.

Geschrieben wurde dieses Buch in einer Zeit, als ein weiterer Neuanfang deutscher Literatur zu verzeichnen war, von den 47ern argwöhnisch beäugt, der vielleicht mehr denn je an den Beginn in Barock und später Romantik anschloss: Bezeichnet wurde diese neue Linie mit »Neue Subjektivität« oder »Neue Innerlichkeit«, eine Linie, aus der sich bis heue immer neue Seitenlinien verzweigen.

Vorausgegangen und auch von der Gruppe 47 gefördert, war eine Literatur, die in weiten Teilen innere Sprachkritik betrieb, die sich mit Krieg, Shoah und Verbrechen auseinandersetze, in der die Leiden der Zivilbevölkerung kaum vorkamen, weil sie als gerechter Lohn für das verursachte Chaos angenommen wurden. Und im Gefolge der mittleren 60er Jahre eine stark politisierte Form von Literatur, die der Literatur politische (linke) Propaganda zuwiesen oder zumindest Zeitbezug forderten. Günter Eich reagierte seinerzeit auf diese Forderung mit einigen seiner »Langen« Gedichte:

Akazien sind soziologisch unerheblich.
Akazien sind ohne Zeitbezug
Akazien sind keine Akazien

Oder

Ich habe meinen Verdacht
gegen Winter, Forelle und
Fallgeschwindigkeit

Einen dreifachen Neubeginn signalisiert also das Treffen in Telgte: Den Anfang deutschsprachiger Literatur im heutigen Sinne in und nach dem Dreißigjährigen Krieg, den als Neubeginn empfundenen Anfang nach dem zweiten Weltkrieg und nach den Auseinandersetzungen mit Krieg, Shoah und nach politischen Querelen den sich abzeichnenden Neuanfang einer Literatur, die sich auf andere Weise menschlicher Entwicklung und subjektiven Ausdrucksformen anzunähern begann.

Tatsächlich war die Literatur der sog. Gruppe 47 alles andere als homogen. Und gleichzeitig wurden manche zeitgenössische Dichter, wie etwa Celan, von der Gruppe vollständig verkannt, auch wenn sie dann später doch Resonanz erfuhren (Celan: Büchnerpreis 1960).

Dennoch war die Zeit nach dem Krieg eine für die deutschsprachige Literatur sehr folgenreiche und auch fruchtbare Zeit. Denn neben den Prägungen, die von Grass und anderen in politischer Hinsicht ausgingen, gab es eine Ingeborg Bachmann, die sich auch aus biographischen Gründen in Richtung einer feministischen Literatur entwickelte (z.B. Malina: »Es war Mord«) und Max Frisch, der nach seinen Anfangswerken spätestens mit »Stiller« die Identitätsproblematik aufwarf und daran bis Montauk und auch in seinen Tagebüchern weiterarbeitete. Neben Celan gab es eben auch Nelly Sachs, wenn auch in stets kleinen Auflagen, die das religiöse Moment in der Lyrik festhielt, Hildesheimer, Wellershof (2018 gestorben), später Thomas Bernhard als einen der sprachmächtigsten, Siegfried Lenz usw.

Mit den beginnenden 80er Jahren kam auch das Biographische stärker ins Spiel (wobei auch Frischs Romane autobiographische Elemente haben, wie auch etwa Walsers, Thomas Bernhards usw.).

Tatsächlich zeigen gerade auch diese Texte, die sich biographischen Erinnerungen verdanken, dass Literatur anderes ist als das bloße Abschreiben einer an- oder vorgeblichen Wirklichkeit. Was aber diese Art der Literatur leistete, das war die verstärkte Aufnahme alltagssprachlicher und lebensweltlicher Elemente.

Die Ende des Jahrtausends dann entstehende Popliteratur (Goetz, Kraft, Stuckrad-Barre etc.) nahm dann auch Modeartikel, Marken und schließlich auch die neue Technik in ihre Texte auf. Das ging so weit, dass schließlich Emailromane erscheinen, die tatsächlich den Emailcharakter nachahmten (Glattauer, Gut gegen Nordwind), um dann doch wieder vom Emailroman zu einem als Emailroman getarnten Briefroman zurückzukehren (Zsuzsa Bank, Schlafen werden wir später, 2016).

Aufgrund der Findung der Biographie als ausdrücklicher Quelle für das Schreiben literarischer Texte kamen schon bald Familienromane auf den Markt. Und schon vorher gab es Kindheitserinnerungen. Ein Autor, der bis heute davon literarisch lebt und sprachlich ausgesprochen faszinierende Texte schreibt, ist Joseph Winkler, ein Österreicher.

Wer in seine Kindheit reist und seiner Familie nachgeht, wird zumindest, wenn er in den 50er und 60er Jahren in Westdeutschland geboren ist, immer auch auf konfessionelle Relikte stoßen. Darüber wird noch zu sprechen sein.

Was aber die Religion angeht: Es gibt heute mehr als früher Texte, die religiöse Motive aufnehmen. Oder vielleicht sollte es besser heißen: die sich auf religiös gegründete Texte aus Bibel und Gebetssprache beziehen und sie als Kraftquelle benutzen. Das war schon nach dem Krieg der Fall mit Brecht, Böll und Grass, mit Celan, Nelly Sachs und Hilde Domin – um nur wenige zu nennen.

Heute treffen wir allerdings auf Dichterinnen und Autoren, die häufig religionsfremd sind. Und es ist erstaunlich, dass gerade diese plötzlich Motive und Wörter oder sogar Sätze nutzen, die dem religiösen Sprechen entstammen.

Woran das liegt? Auch darüber wird zu sprechen sein. Einen Hinweis gibt vielleicht die Tatsache, dass die Lyrik hier mehr noch als die Prosa von diesem Phänomen befallen ist.

In den Anfängen deutschsprachiger Literatur während und nach dem dreißigjährigen Krieg wurde das Werk eines Autors/einer Autorin ganz selbstverständlich unterteilt in »geistlich« und »weltlich«. Die weltliche Dichtung war verspielt teilweise bis hin zum Obszönen, die geistliche Dichtung war zum Teil Gebrauchsdichtung für die Liturgie (z.B. Paul Gerhard) zum Teil auch einfach biblischen Motiven abgeschaut (z.B. Gryphius und dessen Vanitas-Gedichte, oder auch Logau).

Die letzte Dichterin, der auch ein geistliches Werk zugesprochen wurde, war wohl Annette von Droste-Hülshoff (1797 bis 1848) mit ihrem »Das geistliche Jahr«. Allerdings waren diese Texte längst alles andere als Gebrauchslyrik. Sie zeigen vielmehr die menschliche Zerrissenheit, die sich eben auch im Gläubigen widerspiegelt.

Zwar gab es auch danach immer noch wieder Ansätze eine »geistliche«, bisweilen sogar konfessionelle Literatur zu etablieren, in Frankreich noch stärker als in Deutschland. Allerdings blieben zumindest für Deutschland solche Versuche kulturell weitgehend resonanzlos.


3. »Einmal, da hörte ich ihn« (Celan)
    Zur Rezeption von Religion in der Gegenwartsliteratur
    Ein Überblick

Dass Dichtung und Literatur sich aus Mythos und Religion entwickelten und ihren eigenen Ort später dann vor allem in Abgrenzung zur Theologie wie zur Religion bestimmten, ist bekannt.

Schauen wir auf die barocken und klassischen, auf die romantischen und naturalistischen, auf die expressionistischen und realistischen Zeiten deutschsprachiger Literatur, also auf die Zeit zwischen Dreißigjährigem Krieg und Zweitem Weltkrieg, dann kommen einem allenthalben biblische Motive oder biblische Sprache entgegen, in Sätzen, in einzelnen Wörtern, manchmal im Stil. Meist ist diese Bibeladaption an die Form lutherischen biblischen Sprechens gebunden – sicher kein Zufall, ist die Lutherbibel doch der erste verbreitete Text vernakularer Sprache in Deutschland und so etwas wie der Beginn umgangssprachlichen Schreibens und offiziellen Sprechens in Umgangssprache.

Allerdings wusste sich auch der Nationalsozialismus dieser mit Emphase aufgeladenen Sprache zu bedienen und leitete so deren Desavouierung ein (vgl. LTI). Und auch wenn es manche Dichter nach dem Krieg versuchten (z.B. Reinhold Schneider, Edzard Schaper, Werner Bergengruen u.a., gerade im religiösen Kontext), nach dem Krieg unvermittelt an das Vorkriegssprechen anzuschließen: Es ging schlicht nicht mehr. Außer in stark kirchlich sozialisierten Kreisen, die häufig ebenfalls gegen alle Sprachkritik immun waren, fand diese Sprache kaum Ohren mehr[6].

Wenn wir nun die sog. moderne Nachkriegsliteratur in den Blick nehmen, so kommt auch diese dann doch nicht ohne religiöse Bezüge aus, allerdings thematisiert sie diese Bezüge auf einer inneren Metaebene mehrfach. Sie findet sich als Auseinandersetzung mit konfessioneller Enge (z.B. Böll), als Abweisung (z.B. Grass) bei gleichzeitiger sprachlicher Nähe[7] bisweilen, als Infragestellung religiösen Vokabulars (Celan, Kunert) oder als klagende oder psalmische Ansprache (Sachs, Domin). Diese Formen der Auseinandersetzung oder auch Neubesetzung religiösen Sprechens oder religiöser Motive lässt sich schwerpunktmäßig für die 50er und mehr für die 60er Jahre erkennen, bei einzelnen AutorInnen geht das bis in die Gegenwart. Doch ist mit dem Tod von Celan und Sachs eine deutliche Zäsur gesetzt.

Zwischen institutionalisierter Religion und der Literatur gab es in diesen Zeiten kaum Bezüge. In Predigten aus den 50er und 60er Jahren wurde teilweise sogar vor der Lektüre dieser als Schmutz bezeichneten Literatur gewarnt.

Andererseits begann spätestens in den 60er Jahren auch die Inanspruchnahme der Literatur durch die Verkündigung. Es gibt aus den 60er Jahren eine erhellende Predigt, in der es in den ersten fünf Minuten um das »Warten auf Godot« von Beckett geht. Dann fährt die Predigt aber unvermittelt fort: »Und dieses Warten auf Gott…«. Literarische Zitate tauchten zunehmend in auch wissenschaftlichen theologischen Arbeiten auf. Und in den 70er und 80er Jahren gab es eine Fülle von theologischen Arbeiten zu literarischen Texten und auch einzelnen AutorInnen. Vor allem zu nennen sind hier die sehr fleißigen und detailreichen Arbeiten von Kuschel und später von Langenhorst. Auch Paul Konrad Kurz hat in den mittleren 60er Jahren so gearbeitet. Allerdings handelte es sich immer um Arbeiten mit einem theologischen Fokus. Das heißt, es ging um die Suche nach religiösen Spuren in der Gegenwartsliteratur, um die Gestalt Jesu usw. Man nahm in diesen Arbeiten die Verfremdungen oder merkwürdigen Aneignungen religiöser Motive wahr, man freute sich an der offensichtlichen Anwesenheit des Religiösen in der Literatur. Selbst ein Dichter wie Günter Kunert wurde da zum religiösen Dichter stilisiert (vgl. Auseinandersetzung Kuschel/Krämer in Publik-Forum 1987). Fast nie ging es um die Spezifika von Literatur, man blieb bei den Inhalten.

Gleichzeitig gab es aber keinerlei literaturwissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema. Die Literaturwissenschaft und damit vor allem die neuere deutsche Literaturwissenschaft im Kontext der Germanistik wurde in den Jahren nach dem Krieg bis heute von anderen Ansätzen geprägt (Phänomenologie, Kritische Theorie, Konstruktivismus etc.).

Im germanistischen Kontext galten theologische Argumente als zumindest verdächtig, was sich u.a. auch aus der Verstrickung der Germanistik in den Nationalsozialismus erklären lässt[8].

Der Titel dieses Kapitels entstammt einem späten Gedicht von Paul Celan, das sich von anderen Gedichten Celans sehr unterscheidet:

EINMAL,

da hörte ich ihn,

da wusch er die Welt,

ungesehn, nachtlang,

wirklich.

Eins und Unendlich,

vernichtet,

ichten.

Licht war. Rettung.

              Paul Celan

Es sind viele Ebenen, auf denen dieser kleine Text sich bewegt. Und deswegen lässt sich an ihm gut zeigen, wie Literatur/Dichtung mit gefundenen Motiven und Sprachelementen umgeht.

Auf der umgangssprachlichen Ebene wirkt der Text eigenartig:  Einmal, das kann zweierlei bedeuten: Einmal, vor langer Zeit oder ein einziges Mal. Dann ist nicht wie sonst bei Celan üblich von einem Ich und einem Du die Rede, sondern distanzierter und nicht im Modus der Anrede von einem Ich und einem Er. Das Ich hört Ihn. Und das Ich weiß noch mehr über dieses Er zu sagen: dass dieses nämlich wusch, und zwar nicht etwas Wäsche oder Autos, sondern gleich »die Welt«.

Verlassen wir die alltagssprachliche Ebene, fragen nach Konnotationen oder möglichen Zitaten: Das beginnt schon mit dem Titelwort. Da klingt dann plötzlich Märchen an: Es war einmal… zumal das ganze Gedicht nicht im lyrischen Präsenz, sondern im erzählenden Imperfekt geschrieben ist.

Auch der erste vollständige Satz verweist in Epische: »Ik gıhorta dat ſeggen«: Ich habe das sagen gehört (Beginn des Hildebrandliedes) oder auch die alten »maeren« des Nibelungenliedes, die auch nur gesagt und damit gehört wurden.

Mit diesen Implikaten weist der Text also weit über sich hinaus in eine andere Zeit und damit gewinnt das Einmal fast schon mythischen Charakter.

Bleiben wir auf dieser Sprachebene für die folgenden drei Zeilen: Was ist denn an der Welt, dass sie gewaschen werden muss? »Einmal… da wusch er die Welt«. Und wer ist in der Lage, die Welt zu waschen. Offensichtlich ist das Er und sein Waschen nur dem Ohr wahrnehmbar, nicht dem Sehen, und all das geschieht im Dunkel der Nacht, und es dauert »nachtlang«.

Das Gedicht ist um 1965 herum entstanden. Es ist bewusst nicht als Vision verstanden und zum Ausdruck gebracht (ungesehn), sondern als Sprache (Audition) (da hörte ich). Was das abgewaschen wird, das kann ganz Verschiedenes sein: Schmutz, Schuld, Leid… Für Celan war die Sprache verschmutzt durch die Boshaftigkeit »goldener Rede« (Spät und tief), durch ideologische Verheißungen, unter deren Worten Millionen Menschen, jüdische Menschen zumal, zugrunde gerichtet wurden, die Welt war ein Ort des Leidens. Und nun wird sie gewaschen – von wem auch immer.

Was das Gedicht immerhin gegen Mythos und Märchen behauptet ist, dass dies »wirklich« gehört wurde und geschehen ist. Einmal – wirklich: Diese beiden Wörter stehen sich gegenüber und nun geht es tatsächlich um die Einmaligkeit dieses Ereignisses.

Wie dies Waschen der Welt aussieht: Es muss sich jedenfalls um ein kosmisches Geschehen handeln, ein Geschehen, in dem was war und unterging, wieder zur Geltung kommen kann und etwas entsteht, das eine neue Welt zu werden verspricht.

Mit Alltagssprache ist hier nichts zu machen und zu verstehen. Dem Gedicht zeitgenössische Theoriebildungen scheinen auch nicht weitergeholfen zu haben, um das Gehörte zu explizieren. Deswegen greift das Gedicht zurück auf Früheres: Auf Dichter wie Hölderlin, auf einen (jüdischen) Philosophen wie Spinoza oder den diesem nachdenkenden Hölderlinfreund Schelling.

In der Begegnung mit den Texten und dem Leben Hölderlins hat Celan sich offensichtlich als diesem verwandt erlebt. Und dass Celan Spinoza gelesen und bearbeitet hat, zeigt seine Bibliothek. So kommt es zu den eigenartigen folgenden Worten:

Eins und Unendlich,

vernichtet,

ichten.

Eins und Unendlich, das ist das griechische En kai Pan, das Eins und Alles, eine Chiffre des Panentheismus für Gott und die Welt, für mehr aber:

In großartigen Widersprüchen träumten die "Vereinigungsphilosophen" vom Ende der Entzweiung, von einer Welt, in der der "Geist ins Leben übergeht" (Schelling), einer Zukunft ohne politische Gewalt und ohne den Abstraktionsschmerz des Rechts. Hölderlin wollte die "Maschine" des Staates, der "freie Menschen als ein mechanisches Räderwerk behandelt", in ein beseeltes Kunstwerk überführen und Politik in Schönheit. Alles Bedrängende und Bedrückende müsse abgeschüttelt, alle überkommenen Gegensätze überwunden werden. Das Ewige sollte mit dem Zeitlichen ebenso versöhnt werden, genauso wie Vernunft und Sinnlichkeit, Theologie und Wissenschaft. Aus den "befleckten veralteten Formen", befand Hölderlin, sollte die "jüngste, schönste Tochter der Zeit, die neue Kirche hervorgehen", eine wahrhaft christliche Gemeinschaft, doch so licht und klar und frei wie die antike Polis.
Kaum etwas trifft die Wunschenergien der Tübinger genauer als die griechische Losung "hen kai pan" – Alles in Einem und Eins in Allem. Das heißt: Die Welt ist die Einheit der "Vielheiten", und in ihr sind Gegensätze nicht feindselig und tragisch, sondern produktiv. Gesellschaftliche Spannungen sollten nur insoweit notwendig sein, um das Weltgebäude zu tragen. Mit dem unauflöslichen Rest an Tragik, an Leid und Schmerz versöhnen die Dichter. […]
Das "Ich denke" entdeckt im Gang der Reflexion ein unhintergehbares "Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorhergeht". Mit diesem Satz ist die nachkantische Philosophie geboren. Sie ersetzt den verlorenen personalen Gott durch ein Unendliches in der Welt – durch ein göttliches "Seyn".[9]

Nicht nur die Dichotomie zwischen Gott (Eins) und Welt (Unendlich) bzw. zwischen transzendentem und immanentem Gott wird vernichtet, sondern beide Seiten – im Waschen der Welt – vernichtet, werden tatsächlich zu etwas Neuem, das sich aber nicht mit gewohnter Sprache sagen lässt, sondern in ein neues Wort, einen dichterischen Neologismus fließen: »Ichen«.

Aus der Vernichtung entsteht hier etwas Neues: ein Ich, im Plural. Es entsteht also nicht, wie bei den Tübingern, eine neue Kirche oder gar eine neue Welt. Sondern es entsteht ein mehrfaches Ich. Ich ist allerdings nur, wo Ich auch gesagt wird. Ich erschließt sich nicht dem Sehen, sondern nur dem Hören. Insofern ist der Anfang des Gedichtes richtig, wenn es sagt: einmal, da hörte ich ihn. Katharsis führte einmal durch Nacht und Vernichtung zu einem Ich.

Wo das Ich des Gedichtes auf ein Ich aus der Vernichtung von Eins und Unendlich stößt, da wird Anrede möglich, und mit der Anrede auch das Sprechen.

Sprachlich aber steckt im Vernichten das Ichten bereits drin. »Ichten« ist »Vernichten« ohne den V erneinungsanteil. Wenn Eins und Alles/Unendlich sich vernichten oder vernichtet werden, dann erscheint daraus ein Ich. Und wo Sprache in diesem gebrochen und gereinigt wird, kann sie auch wieder klären, Klarheit schaffen, also Licht und damit Rettung sein, Überwindung der Nacht.

Bleibt zu fragen, was und wann denn dieses Einmal war. Bei all dem impliziten Selbst- und Sprachbezug dieses Textes lässt sich das genau sagen: Es ist der Akt der Entstehung dieses Textes, der tut, was er zeigt, der damit deutlich macht, welche Klarheit und welche Rettung Sprache und Sprechen am Ende bedeutet haben können.

Fast 40 Jahre später entstand ein ganz anderer Text, der ebenfalls religiöse Implikationen hat.

sonntags dachte ich an gott wenn wir
mit dem autobus die stadt bereisten.
am löschteich an der straße stand

ein trafohaus & drei & vierzig
kabel kamen aus der luft in dieses
haus aus hart gebrannten ziegelsteinen; dort

im trafo an der straße wohnte gott. ich sah
wie er in seinem nest aus kabelenden
hockte zwischen seinen ziegelwänden

ohne fenster dort am grund
im dunkel an der straße hinter
einer tür aus stahl

saß der liebe gott; er war
unendlich klein & lachte
oder schlief.
                                            Lutz Seiler

Während Celan als Jude, also religiös erzogen, groß geworden ist, aufgrund seiner jüdischen Herkunft während des Nationalsozialismus in Rumänien verfolgt und interniert war, nur knapp mit dem Leben davon kam und seine Eltern im KZ verlor, später dann sich gerade auch mit dem Thema Religion auseinandersetzte und dezidierter Atheist mit allen Zweifeln war, stammt der viel jüngere Lutz Seiler aus der DDR (geboren 1963) und hatte zur Wendezeit bereits seine Ausbildung zum Zimmermann und sein Studium der Germanistik hinter sich.

Vom Ursprung her ist Seiler Lyriker, das merkt man auch seinen später erschienen Prosastücken und seinem viel gelobten Roman »Kruso« an. Das hier vorgestellte Gedicht ist eins seiner meist zitierten. Auch der sechs Jahre jüngere Christian Lehnert beruft sich immer wieder auf diesen Text.

Auch dieser Text ist zunächst alltagssprachlich zu verstehen, und das Besondere ist: Er lässt sich auf dieser Ebene vollständig lesen. Liest man das Gedicht so, dann ergibt sich eine kindliche Vorstellung von einem Sonntagsausflug mit dem Bus in die Stadt. »Autobus« - das ist Kindersprache.

Viel ist bei diesem Ausflug offensichtlich nicht zu sehen: Es gibt einen Löschteich. Es gibt ein Trafohaus, DDR-typisch aus Ziegeln, und offensichtlich gezählte 43 Kabel verbinden dieses Trafohaus mit der Welt.

Aber das Trafohaus hat es in sich, im wahrsten Sinn des Wortes: Dort wohnte (!) Gott. Eine Geschichte also. Die Kabel enden nach der Vorstellung des beobachtenden Ichs im Trafohaus. Dieser Gott, der da wohnt ist ein merkwürdiger Gott: Es sitzt hinter einer Stahltür, man sollte meinen recht ungemütlich, im einzigen Reim des Gedichtes. (Zwischen seinen Ziegelwänden/…in einem Nest aus Kabelenden) Eigentlich doch recht gemütlich. Dann heißt er auch noch »Der liebe Gott« - so wie man mit Kindern eben über Gott spricht. Ein kleiner Gott ist es, der entweder lacht oder schläft, und an den man konsequenzlos denken zu können scheint, wie an eine Katze, einen Hund oder ein Baby.

Wie kommt ein Ich, das aus dem Ich-Pool der DDR entlehnt ist, dazu, erinnernd zu sagen (auch hier ist ja Erzählhaltung und Imperfekt): Sonntags dachte ich an gott und auf diese Weise den ganz normalen Sonntagsausflug zum Gottesdienst zu machen?

Das erzählende Ich, ein Kinder-Ich, scheint zu wissen, dass der Sonntag in irgendeinem Bezug zu Gott steht. Das erinnernde Ich fasst diese Begebenheit – eine sonntägliche Wiederholung – in eine stark rhythmisierte Sprache, so dass der Text trotz der schlichten Wörter einen fast getragenen Ton bekommt – wäre da nicht die Unterbrechung durch den Zeilenbruch. Auch mag ein Trafohaus aus Ziegelsteinen ein wenig an einen Kirchturm erinnern.

Allerdings ist dieser »liebe gott« an den das Ich sonntags dachte, »unendlich klein«, er ist ein kleiner verlassener Gott, im Dunkel, fensterlos, hinter einer Stahltür weggeschlossen, »am grund«. Doch interessiert anscheinend diesen kleinen einsamen Gott offensichtlich wenig, die 43 Leitung, die nicht etwa aus dem Trafo hinaus, sondern in ihn hineinführen (tatsächlich ist es ja umgekehrt bei Trafos) und die eigentlich etwas aus der Welt mitbringen müssten, taugen mit ihren Enden allenfalls als Nest.

Der Gott dieses Gedichtes ist zumindest nicht der Gott institutionalisierter Religion, kein kirchlich verkündeter Gott: Dieser Gott ist nicht der Grund von allem, sondern er hockt am Grund. Er ist nicht unendlich groß und mächtig, sondern unendlich klein. Er ist kein Gott der Menschen, sondern außerhalb der Menschenwelt angesiedelt, am Löschteich, an der Straße: Das wird doppelt betont. Er ist kein Schöpfergott, wie ihn Michelangelo darstellte. Und eigentlich ist er anscheinend mit seiner kleinen Welt ganz zufrieden, denn »er lachte oder schlief«.

Warum denkt ein Ich, ein Kinder-Ich, an einen solchen Gott? Anders gefragt: Warum denkt sich ein Kinder-Ich einen solchen Gott? Im Vokabular des Gedichts finden wir durchaus ähnliche Worte wie im Celan-Gedicht: Unendlich, dunkel (Nacht): Warum also denkt sich ein Kinder-Ich einen solchen Gott? Weil der ihm ähnlich ist?

Das Gedicht lässt das vollkommen offen. Es erklärt nichts, es bringt nichts auf den Begriff, es erzählt uns einfach eine Kindergeschichte, die in einer ansonsten ganz gottlosen Welt spielt, von der zumindest die Bewohner des Landes wissen, dass sie gottlos ist.

In einer solchen Welt wird sogar ein schlafender oder gar lachender unendlich kleiner Gott, wenn jemand an ihn denkt, zu einem Moment des Widerstandes. Vielleicht ist es genau das, was das Gedicht auch auf der tonalen Ebene transportiert: Es ist etwas Feierliches daran, aber selbst die, die nun denken: »also doch, Religion…«, werden noch einmal gestoppt und ins Stolpern gebracht durch die verkehrt gebrauchten Wörter ebenso wie durch die »Stopp« signalisierenden Zeilenbrüche.

Nach diesen beiden Texten, die durch Sprachgestus und Wortwahl ihre eigene Bedeutung kenntlich machen, sei im Folgenden nun auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, das sich durch die gesamte Literatur zieht, nicht nur durch die Lyrik. Hier am ehesten wird deutlich, was die Aufnahme religiöser Einsprengsel im literarischen Kontext bedeuten kann.

Morgenandacht

Ein kalter Rauch

hängt überm Tisch.

Der Rest vom Brot

ist hartgeworden.

Der Inselumriß

eines Rotweinflecks.

Und Hausspinnen,

die sitzenbleiben.

Auf dem Grund der

leeren Gläser.

              Walle Sayer

Walle Sayer ist ein Autor, 1960 geboren, dessen Standort im geographischen Sinn immer das Schwäbische im Umkreis von Horb war. Literarisch bewegt er sich quer durch die literarische Weltgeschichte, auch hier mit Vorliebe im deutschsprachigen Bereich, mit Hinweisen aber immer auch nach Polen und in andere Weltrichtungen.

Liest man das oben stehende Gedicht, so fragt man sich als Erstes wohl, wieso das überhaupt ein Gedicht sein soll – außer dass das Vermaß deutlich macht: Ich bin ein Gedicht.

Alltagssprachlich findet sich dort die Reminiszenz an eine kleine Fete, nach der es etwas ungut riecht, Reste übriggeblieben und am Ende auch noch Spinnen in die leeren Gläser gefallen sind, die dort wohl nie mehr rauskommen.

Das nun Morgenandacht zu nennen, ist allenfalls eine nette Geste, eine leichte Erinnerung an frühere Situationen vielleicht, ans Rorate beispielsweise.

Lesen wir den Text aber unter dem Aspekt der Wortbedeutungen und ihrer Konnotationen, so ergeben sich plötzlich ganz andere Perspektiven:

Der kalte Rauch mag ja von Zigaretten oder, noch schlimmer, von Zigarren stammen. Unter dem Vorzeichen »Morgenandacht« wird er zum früheren Weihrauch, zum Opferrauch, zu etwas jedenfalls, dass zwar alt ist, aber immer noch riechbar.

Und schon schlägt das nächste Wort zu: Brot. Auch hier ist es ein Rest, außerdem hart geworden. Und es folgt gleich auch der Wein, allerdings nur als »Inselumriß eines Rotweinflecks«. Allerdings sind wir damit bei »Brot und Wein« angekommen, einer Chiffre, die die Literatur seit einigen Jahrhunderten bewegt.

Es ist nicht viel, was davon bleibt: Reste, kalter Rauch und kaum mehr als eine Erinnerung: Rotweinfleck. Aber auf einer solchen Insel kann man sich niederlassen und nachdenken, besonders, wenn es sich um eine Morgenandacht handelt.

Was will dieser Text vom Leser, von der Leserin, wohin führt er? Er führt zu den Spinnen. Die nun nicht mehr spinnen können auf dem Boden der leeren Gläser: Es gibt kein neues Gewebe, keine Textura mehr. Brot und Wein bleiben Reste und vertrocknete Erinnerungen.

Auf der Bedeutungsebene ließe sich der Text als eine Art memento mori lesen. Aber das ist er nicht. Denn da spricht ja jemand, ein Beobachter: Der nennt das Ganze Morgenandacht.

Und so führt der Text woandershin. Er bringt die Frage nach Brot und Wein auch, nach dem Gewebe, in dem sich diese Worte finden. Und das ist die Dichtung und vielleicht die Religion.

Der Text macht auf eigenartige Weise auf die Funktion von kulturellem Gedächtnis aufmerksam und auf dessen Verschwinden. Wo daran nicht mehr gewoben wird, bleiben nur noch Reste, die irgendwann im Abfall landen, weggewischt werden, jedenfalls nicht mehr alltagstauglich sind.

Leer sind die Gläser (bis auf die Spinnen), weil das Fest von Brot und Wein vorbei ist. Es gibt noch den Tisch, es gibt noch die Gläser, es gibt noch den Rest von Brot und die eingetrockneten »Rotweinflecken«, aber all das ist Erinnerung, die eigentlich fortgeschrieben werden müsste.

Mit Brot und Wein geht es allerdings auch um Kulturdimension, sogar um Kulturheroen, um Demeter und Dionysos, diese verwandten altgriechischen Gottheiten, es geht um Abendmahl und Eucharistie, es geht um ein weit zurückliegendes Geschehen, das der Erinnerung, der Fortwebens bedürfte. Ein Memento allerdings ist dieses Gedicht doch, denn es verweist auf ältere, vorausgegangene Texte, manchmal in der Nachbarschaft, manchmal weit entfernt.

WAS BLEIBT

Das Haus der Welt ist schlecht gebaut,

ich sitze krumm und schief darin.

Ach Sprache, meine stumme Braut,

sag mir, wo ich zuhause bin.

Hier steht ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch,

da ist noch Brot und dort ist Wein.

Was bleibt? Versteinertes Gemisch

aus Sätzen vom Lebendigsein.

Der Sinn der Wörter ist die Haut,

die langsam auseinanderfällt.

Ach Sprache, meine stumme Braut -

das Aug weint, was die Silbe hält.

                             Werner Söllner

Werner Söllner ist zehn Jahre älter als Walle Sayer. Und der Jüngere hat den Älteren gelesen und schätzt ihn. Söllner ist in Siebenbürgen aufgewachsen, in Transsylvania, Sohn einer katholischen Mutter aus dem Banat und eines siebenbürgischen evangelischen Sachsen.

Söllners Gedicht spricht unmittelbar die Sprache an. Es ist also ein poetologisches Gedicht. Bei Walle Sayer versteckt sich Poetologie wieder und will ausgelotet werden.

Mit »Was bleibt« gibt es einen ersten Hinweis auf Hölderlin »Was bleibet aber, stiften die Dichter«. Hier spricht also der Dichter und behauptet in dieser Welt schräg zu sein. Das ist schlimmer als kalter Rauch, als Hausspinnen und Brotreste. Die Frage an dieser Stelle lautet, wie denn Orientierung (raus aus der Schräge) gehen könne. Und er wendet sich an die Sprache, die er doch gerade spricht und nennt sie, die doch gerade spricht, eine »stumme Braut«. Das ist eigentlich paradox: Sie spricht doch, die Sprache und gibt sich dem sprechenden Ich hin. Aber offensichtlich gibt sie weder Orientierung noch Heimat.

Auch hier sagt die Sprache nur Erinnerungen, kommt aus einem kulturellen Gedächtnis, das dabei ist verloren zu gehen. »Bett, Stuhl, Tisch« benennt sie: Ist das Heimat, Zuhause? Gleich folgen wieder die bekannten Worte, begrenzt von einem »noch«: Brot und Wein. In dieser Leere sind sie ein Noch von Leben. Zu mehr aber lässt sich die Sprache auch nicht treiben. Was da gesagt ist, ist längst versteinert als Aussage. Wo kein Zuhause, ist auch kein Leben.

Brot und Wein – auch hier – sind Reminiszenzen an etwas lang Vergangenes: Es gibt sie nur noch als Denkmal, als Sätze, die leer bleiben, auch wenn sie vom Lebendigsein reden.

Der letzte Absatz dieses immerhin gereimten Gedichtes fragt nach der Bedeutung, die Wörter mit sich tragen. Sie bleibt äußerlich. Innen aber ist pure Artikulation, wie Musik, die auch pure Artikulation ist, wie Weinen eben, das sprachlos ist. Und von der Sprache bleiben nur Silben, ach und oh vielleicht. In denen bewahrt sich etwas auf, das von den Monumenten des Brotes und des Weins nicht mehr aufgefangen wird, das auch mit Tisch und Stuhl und Tisch nicht zufrieden ist, sondern das nach einem Zuhause sucht, das sprachlich nicht mehr erreichbar scheint. Und dennoch bleibt die Sprache bis zum Schluss Braut, stumm wie zu Beginn, stumm, weil sie nicht spricht, sondern redet: Von Brot und Wein und dergleichen. Da gibt es Erinnerungen, aber die sind versteinert, haben mit dem Leben nichts mehr zu tun.

Das Gedicht selbst aber singt. Es hat den Tonfall der alten Lieder. Es hofft ein Bleiben durch Singen, vielleicht. Es verwandelt sich älteren Texten an, wohl wissend, dass am Ende vielleicht doch nur das Ach und das Oh bleiben.

Dorothee Sölle hat in Ihrem Buch »Leiden« darauf aufmerksam gemacht, dass es Menschen vollkommen die Sprache verschlagen kann. Dann bleibt wirklich nichts mehr als Stöhnen und Silbensprache als Ausdruck des Weinens. Erst später wird es vielleicht möglich, im psalmischen, also emotional aufgeladenen Sprechen, einen ersten Weltzugang wieder zu finden. Irgendwo auf dieser Ebene liegt Söllners Gedicht, das sich an Früheres erinnert, weil anders kaum mehr zu sprechen ist.

Ein Winterabend

2. Fassung

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,

Lang die Abendglocke läutet,

Vielen ist der Tisch bereitet

Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft

Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.

Golden blüht der Baum der Gnaden

Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;

Schmerz versteinerte die Schwelle.

Da erglänzt in reiner Helle

Auf dem Tische Brot und Wein.
                                      Georg Trakl

Trakls Gedicht hat ebenfalls drei Strophen und hat einen ähnliche musikalischen Tonfall wie das jüngere Söllner-Gedicht. Allerdings hat es eine andere reimfolge (Söllner abab, Trakl abba). Trakl evoziert mit seinem Gedicht ebenfalls Kälte und bietet sprachlich zugleich ein Zuhause an. Was es mit Söllner und Sayer Gedicht verbindet ist ein einziger Satz, der hier als Warnung und Aufforderung zum Stillsein dient: »Schmerz versteinerte die Schwelle«. Auch hier ist vom Tisch die Rede usw. Eine ausführliche Interpretation dieses vielleicht auch als Weihnachtsgedicht zu lesenden Textes kann hier nicht Ziel sein. Wichtig ist, dass die beiden vorausgehenden Texte der Gegenwart, sich dieses expressionistischen Gedichtes erinnern und mit dem wesentlichen Schlussmotiv auf ganz eigene und distanzierende Weise umgehen.

Aber es reicht ja tiefer hinunter in das literarische Sprechen. Es folgt hier ein kleiner Auszug aus Hölderlins Hymne »Brot und Wein«.

Brot und Wein
(5)

Unempfunden kommen sie erst, es streben entgegen
    Ihnen die Kinder, zu hell kommet, zu blendend das Glück,
Und es scheut sie der Mensch, kaum weiß zu sagen ein Halbgott
    Wer mit Namen sie sind, die mit den Gaben ihm nahn.
Aber der Mut von ihnen ist groß, es füllen das Herz ihm
    Ihre Freuden und kaum weiß er zu brauchen das Gut,
Schafft, verschwendet und fast ward ihm Unheiliges heilig,
    Das er mit segnender Hand törig und gütig berührt.
Möglichst dulden die Himmlischen dies; dann aber in Wahrheit
    Kommen sie selbst und gewohnt werden die Menschen des Glücks
Und des Tags und zu schaun die Offenbaren, das Antlitz
    Derer, welche schon längst Eines und Alles genannt
Tief die verschwiegene Brust mit freier Genüge gefüllet,
    Und zuerst und allein alles Verlangen beglückt;
So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben
    Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht
Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes,
    Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.
                                                                         Friedrich Hölderlin

Auch hier kann es nicht um eine Gesamtinterpretation gehen, die ein Buch bräuchte, es geht um wenige (nicht alle) Bezüge, die dieses Gedicht zu den neueren hat:

So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben
    Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht
Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes,
    Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.

Dass Worte wie Blumen entstehen müssen, diese Hoffnung ist den neuen Dichtern vergangen. Trakl versucht es mit einem Baum, (der eigentlich ein Kreuz ist) aber das ist schon fast zu spät. Trakl versucht es auch mit dem Angebot von Heimat. Hölderlin weiß um die Notwendigkeit eines Zuhauses und weist es der Gottheit zu, die es schafft. Aber selbst das bleibt im Dunkel.

Wichtig ist, dass auch dieser Text sich in die Serie einreiht und deutlich wird, wie kulturelles Gedächtnis funktioniert: Indem ein gegenwärtiger Autor von Brotresten spricht und von Weinflecken, entsteht auf einmal ein Gefüge von Bezügen, denen nachgehend wir wieder bei der Sprache landen.

Es ist dies nicht das Ende der Reihe: Es klingen in all dem Gesagten ja noch weitere Momente aus noch früheren Zeiten an: Paulus, die Evangelien und der Sohn der großen Göttin Demeter/Persephone: Dionysos. Dieser eingewanderte Gott, der in den Mysterienreligionen Roms, den orphischen Kulten, eine ganz besondere Bedeutung als Erlöser hatte.

So entwickeln sich über einige Wörter, über Reime und Sätze Wiedererinnerungen, denen zu folgen vielleicht ein wenig von dem mit sich bringt, was das Söllner-Gedicht verloren zu haben glaubt. Allerdings eben nur dann, wenn diese Erinnerungen irgendwie wachgehalten werden.

Doch verstummt dieses Erinnern mangels Sprache vielleicht wirklich. Und vielleicht erinnert sich bald niemand mehr bei »Brot und Wein« an anderes als an schmale Fetenkost. Dann allerdings versteht auch niemand mehr das Sayer-Gedicht. Und noch weniger das von Georg Trakl.

Und das hätte tatsächlich Konsequenzen, nicht nur für die Dichtung. Auch für die Religion. Vielleicht sogar für den Glauben.

Zum Schluss dieses Abschnittes nun noch ein kurzer Blick auf einen Prosatext, um zu prüfen wie Prosa mit religiösen Motiven umgeht.

Dieser Textabschnitt stammt aus Patrik Roths »Christus-Novelle« »Riverside«. 1990 erschienen stellte dieses Buch etwas Singuläres in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dar. Zwar taucht Jesus nicht unmittelbar in der Geschichte auf, sondern nur als erzählter. Aber von ihm wird hier aus erster Hand erzählt.

Die Situation: Zwei Christus-Anhänger, Tabeas und Andreas Markus werden von ihren Glaubensgenossen zu einer Höhle in der Wüste geschickt, in der ein alter Mann leben soll, der angeblich direkten Kontakt mit Jesus hatte. Sie sollen herausbekommen, ob dieser nicht noch von einem bisher unbekannten Wunder aus dem Leben Jesu weiß oder von sonst einer unerhörten Begebenheit. Der Name jenes Alten: Diastasimos (der Auseinanderstehende, Entzweite). Hintergrund, so die Story, ist, dass Thomas ein Evangelium schreiben will und dafür originalen Stoff braucht, der bisher nicht bekannt ist.

Die Geschichte selbst ist sehr schlicht: Diastasimos hat seine Familie verlassen, als er feststellt, dass er von Aussatz befallen ist. Im Tempel trifft er auf einen verkleideten römischen Soldaten, der ihn mit der Peitsche schlägt und dabei entdeckt, dass dieser aussätzig ist und daraufhin entsetzt mit dem Schwert nach ihm schlägt. Diastasimos kann fliehen. Er lebt in der Höhle als eines Tages Jesus mit Judas und Johannes vorbeikommt. Diastasimos hat von diesem Wundermann schon viel gehört. Er argwöhnt, dass Jesus nur gekommen ist, um ihn zu heilen. Jesus aber heilt ihn nicht, weil er gar nicht geheilt werden will von ihm. Er trägt ihm in einer merkwürdigen Form eines »Höhlengleichnisses« auf, den zu suchen, der ihn gesehen habe usw., nennt ihn einen Entzweiten.

Am Ende geht es nicht mehr um das Jesus-Erzählen, sondern darum, dass die beiden, Tabeas und Andreas, sich selber finden – als Söhne des Diastasimos.

Was an dieser Erzählung fasziniert, ist weniger die Story als vielmehr die Sprache, in der sie geschrieben ist. Das ist keine Alltagssprache, sondern eine Sprache, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Vom Sprachduktus her greift die Sprache auf biblische Tonalität zurück. Vom Wortschatz her ist festzustellen, dass häufig Wörter benutzt werden, die für die meisten Menschen nicht zum Alltagssprachgebrauch gehören:  Da wird jemandem etwas geheißen (=aufgetragen), da wird verhehlt (=verheimlicht), es werden lateinische Wörter benutzt wie Stilus (=Griffel) und flektieren (=beugen) usw.

Das, was dem innerkirchlichen Sprechen oft vorgeworfen wurde, dass es nämlich in unserer Zeit eher eine Fremdsprache sei, das wird hier bewusst genutzt, um die Fremdheit des Geschehens deutlich zu machen. Es ist allerdings auch weder Kirchen- noch Bibelsprache, die hier gesprochen wird, es ist eine Eigensprache, die Roth auch später noch einmal nutzen wird z.B. in seinem Josephsroman.

Gleichzeitig verlangsamt diese Sprache das Lesen ungemein. Man kann nicht einfach darüberhin lesen. Man wird immer wieder zurückgestoßen, so wie Diastasimos die beiden Besucher immer wieder zurückstößt. Und so kommt man nicht nur bei den Sätzen, sondern am Ende bei den einzelnen Worten an. Und genau darum geht es auch wohl.

Auch andere Autorinnen und Autoren lassen in ihren Büchern Sprachtaumel entstehen, Lewitscharoff beispielsweise im Pfingstwunder. Oder sie wenden sich der Barocksprache zu, weil die so vollständig noch klingt und an Anfänge gemahnt: Günter Grass im Butt, geschult an Grimmelshausen.

Das muss nicht immer gelingen. Feridun Zaimoglu etwa hat Ähnliches mit Evangelio (2017) versucht und ist daran, wie ich denke, gescheitert.

Was aber all diese Bücher, die hier nur exemplarisch genannt werden – Handke, Strauß, Meckel, viele andere wären noch zu nennen – zeigen ist, dass es auch in der religiös getönten Prosaliteratur immer auch um Sprache geht, dass Literatur, wenn sie ernst zu nehmen ist, Sprache nie nur als Medium begreifen kann, sondern sie immer mit thematisieren muss.


4. Literarisches und religiöses Sprechen
    Oder: Was Theologie, Liturgie und Verkündigung von Literatur
    lernen können

Religion, wie sie sich in den abrahamitischen Religionen zeigt, ist eingelagert im kulturellen Gedächtnis unserer europäischen Gesellschaften. Ebenso – wenn wir im Kontext von Religion bleiben – liegen dort Mythen und Märchen, Legenden, Gebete, Geschichten, die allerdings verstummen und verschwinden, wenn sie nicht in jeder Gegenwart aktualisiert und über das soziale Gedächtnis ins individuelle, ins persönliche Gedächtnis eingetragen werden. Dieser Prozess ist gesellschaftlich weitgehend an die institutionalisierten Religionen delegiert. Gleichwohl bleibt er aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ebenso wie die Bewahrung kultureller Gedächtnisinhalte, die gegenwärtig nicht aktualisierbar sind.[10]

Ein Beispiel zur Erläuterung: Viele Kinder und Jugendliche kennen längst nicht mehr den gesamten Märchenschatz, den allein die Brüder Grimm überliefern (geschweige denn all die anderen Volks- und Kunstmärchen, die in den unterschiedlichsten Sammlungen abgelegt sind). Dennoch kennen sie einzelne Märchen und wissen woher diese kommen. Also können sie bei Bedarf oder Interesse dorthin schauen und sich die entsprechenden Geschichten als Texte aneignen.

Die Vermittlung derartiger Inhalte unterscheidet sich von der Wissensvermittlung in den (z.B.) MINT-Bereichen, weil sie weder emotionslos geschehen kann noch die Emotionen der Aufnehmenden unberührt lässt[11]. In anderer Weise als Naturwissenschaften oder gar Mathematik gestalten die Archive der Religion und der Dichtung, der Mythen, Balladen und Geschichten, wenn sie Eingang in die Gegenwart der einzelnen Menschen finden, deren Persönlichkeit mit, das heißt u.U. auch: deren Verhalten und Welt- und Selbstverhältnis. Deswegen müssen solche Vermittlungen gesellschaftlich transparent erfolgen, d.h. öffentlich und überprüfbar. Denn diese kulturellen Archive sind alles andere als ungefährlich. Genauso wie die Gentechnologie können sie genutzt werden, damit Menschen ein Leben als Menschen in reflektierter Solidarität, in Selbst- und Weltverantwortung usw. leben können, können also das Humanum stärken, wie sie aber auch genutzt werden können, um Menschen zu verbiegen, zu brechen und abhängig zu machen.

Der Literatur der Gegenwart sind, auch vor dem Hintergrund schrecklicher Erfahrungen im letzten Jahrhundert, Widerstände und Stacheln eingebaut, die einem Missbrauch vorbeugen sollen. Genau deswegen nämlich ist Gegenwartsliteratur stark selbstreferentiell (vgl. oben die Selbstbezüglichkeit von Literatur). Wo das der Fall ist, macht das zwar die Aufnahme und Aneignung nicht leichter, weil permanente Reflexion gefordert ist. Zugleich sorgt die Reflexion aber für eine gewisse Distanzierung, die eine ungewollte Aneignung zu verhindern mag. Schließlich wird die Leserin oder der Leser bei der Lektüre solcher Texte immer wieder auf seine eigene Sprache und das eigene Sprechen gestoßen, das dadurch seinerseits zwar nicht einfacher, aber vielleicht doch klarer wird und sich gelichzeitig einer dauernden Selbstüberprüfung unterzieht. (Damit gehorcht diese Sprache dann vielleicht nicht den Ordnungen der Political Correctness, sie wird aber human, bleibt stets auf den Menschen bezogen und ist sich vieler ihrer Implikationen bewusst.)

Solche Sperren waren der Literatur eigentlich immer eigen. Stets galt die jeweilige Avantgarde als schwer zu verstehen. Das gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für Musik und bildende Kunst (vgl. die Mahnung an Bach, er solle gefälliger spielen und nicht die Leute verwirren). Spätere Generationen können sich, nachdem das vormals Aufsehen oder Ärgernis Erregende Standard geworden ist, diese stets vorhandene Differenz kaum vorstellen.

Die gegenwärtige religiöse Sprache in Liturgie und Verkündigung ist dagegen längst geschmeidig und angepasst geworden, oft lieblich bis betulich. Jedenfalls tut sie niemandem weh (außer manchmal in den Ohren). Das war nicht immer so, sondern das ist Ausdruck einer Kontingenz-Bewältigungs-Religion. Das Sprechen in den Kirchen regt außer ein paar kritischen Geistern niemand auf. Meist wissen die Hörenden ohnehin, was als nächstes Wort, als nächster Satz kommt. Es ist alles voraussehbar.

Das war nicht immer so. Die biblischen Propheten wussten für Aufregung zu sorgen. Vielen dieser Texte merkt man bis heute an, dass sie einst provokativ waren. Viele enthalten bis heute Unzumutbarkeiten. Und auch Leben und Wirken Jesu waren wohl alles andere als stromlinienförmig. Sonst hätte dieser Mann nicht der Kreuzeskatastrophe geendet.

Nun können Worte, Sätze und Texte auf sehr unterschiedliche Weise Anstoß erregen. Sowohl auf der Aussage-, also der Inhaltsebene können sie Widerstand provozieren. Genauso kann aber auch die Art des Sprechens/Schreibens irritieren, die Wortwahl, die Grammatik, die Zeichensetzung usw. Und oft genug geht in literarischen Texten beides zusammen.

Bei den Propheten, bei Jesus ging beides oft zusammen: Wort und Zeichenhandlung und manchmal auch das Leben selbst waren eins. Allerdings war deren Verkündigung meist keine Selbstaussage, sondern advokatorisches Sprechen. Und wer Anstoß daran nahm und nimmt, das waren und sind nicht die, in deren Namen gesprochen wird, sondern jene, die sich in ihrer Lebens- und Denkhaltung (zumindest) irritiert, vermutlich angegriffen fühlen.[12]

Literatur kann heute inhaltlich kaum mehr provozieren. Charlotte Roche hat es noch mal probiert mit ihren »Feuchtgebieten«. Der Aufschrei war kurz und heftig und bald verklungen. Wirksamer scheint heute die Reflexion fordernde Provokation durch Sprache, Stil, Grammatik. Josef Winkler arbeitet so, Elfriede Jellinek ebenfalls, Günter Grass hat seine Sprache schwer und sperrig gemacht, Patrik Roth (s.o.) ebenfalls und in der Lyrik ist es ohnehin so. Hingegen schreibt ein Autor wie Hanns-Josef Ortheil oft in einer geradezu kindlichen Naivität, was aber auch stilisiert wirkt und dadurch wieder irritiert. Dennoch ist ein solches Erzählen leichter adaptierbar an das eigene biographische Sprechen.

Was heißt das nun für zeitgenössisches religiöses Sprechen?

Die langwierige Beschäftigung mit literarischen Gegenwartstexten, das war die Aussage der bisherigen Überlegungen, verändert das eigene Sprechen, indem es reflexive Unterbrechungen schafft, die sich gleichermaßen auf die Weise des Sprechens richten wie auf dessen Implikate, also das, was immer mitgesprochen wird und damit ebenfalls im Raum steht.

Rhetorisch geschickter wird dadurch kein Mensch. Eher gerät man ins Stottern, wird vorsichtig und zurückhaltend und beginnt den tosenden Wörtern zu misstrauen und den leisen verhaltenen genauer nachzuschauen.

Dass es keine grundsätzlichen Tipps und Tricks, keine Rezepte geben kann, hängt damit zusammen, dass das eigene Sprechen zum Intimsten eines Menschen und zu seiner Persönlichkeit gehört. Wer sich in dieser (literarischen) Weise auf Sprache einlässt, wird merken, dass sie ihm oder ihr naherückt, wird merken, dass im Sprechen etwas von der eigenen Geschichte und dem eigenen Hoffen, Glauben, Sehnen durchscheint, von mir also. Das geschieht nicht, weil ich von mir spreche. Von sich selbst zu sprechen oder Anekdoten aus dem eigenen Leben zu erzählen, mag ein beliebter Predigttrick sein, mit authentischem Sprechen hat das wenig zu tun.

Im Gegenteil: Ich kann dann über etwas sprechen, und wer mir zuhört, merkt, dass ich als Sprechender im Gesagten anwesend bin. Es ist wie mit der Liebe: Wenn ich liebe, brauche ich nicht zu sagen, dass ich liebe, weil alle Welt merkt, dass der Sprechende gerade auch ein Liebender ist.

Was sicher nicht geht ist, einfach literarisches Sprechen in religiöses zu überführen. Auch wenn es in beiden Sprachspielen um den Menschen geht und seine Welt- und Lebenskonstruktion, so sind beide Sprachspiele doch zu unterschiedlich. Vielleicht wäre derlei vor 400 Jahren noch gegangen, als die vernakulare Sprache zur Literatursprache wurde. Die damalige Fähigkeit »geistlich« zu dichten, scheint dafür zu sprechen. Doch war auch damals Literatur schon zu sehr Spiel, als dass ein Gryphius, ein Logau, ein Opitz mit dem jeweils geistlichen Werk als tatsächlich religiöses Sprechen hätten wahrgenommen werden können.

Ausnahmen sind vielleicht Gerhard oder Spee von Langenfeld, deren Gedichte von Anfang an aufs Lied zielten.

Inzwischen taugt das literarische Sprechen allenfalls als Vorschule (Jean Paul) religiösen Sprechens in Liturgie und Verkündigung. Deshalb sollte zur theologischen Ausbildung unbedingt auch die begleitende Auseinandersetzung mit literarischen, gemeint sind zeitgenössische, Texten gehören. Das würde vermutlich auch den bisweilen aufgeblasenen, bisweilen unverständlichen oder auch einfach nur betulichen Schreib- und Redeweisen von Theologen und wissenschaftlicher Theologie guttun.


[1] „Bilde, Künstler! Rede nicht! Nur ein Hauch sei dein Gedicht!“

[2] Erstaunlicherweise geben dennoch viele Männer gern Geld und Zeit aus für (Computer)Spiele.

[3] Ersetzung eines Wortes durch ein nahestehendes allgemeineres oder z.B. die Wirkung beschreibendes: Wir haben Krach – statt wir haben Streit; der ich lese gerade Goethe statt in Goethes Werken.

[4] Dass zum Beispiel ein gut gekleideter Mensch Geschmack habe, bedeutet nicht, dass er an seiner Kleidung geleckt hat. Und die Beschreibung eines empfindlichen Menschen als Mimöschen lässt ihn keineswegs wie eine Blume aussehen.

[5] Der transitive Gebrauch von Erinnern (Ich erinnere dich an etwas…) hat sich zwar sinnfrei aber freundlich als Synonym für »Ermahnen« etabliert.

[6] Als aber Reinhold Schneider sich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aussprach, wurde er plötzlich gemieden. Man erwartete eben, dass in erwarteter Sprache auch Erwartbares gesagt wurde.

[7] Noch in »Beim Häuten der Zwiebel« lässt Grass den Ich-Erzähler im Gefangenen-Lager auf Josef treffen, der später ein bekannter Theologe und Papst wurde.

[8] Vgl. etwa »Sprachlos: Germanisten als Hitlers Parteigenossen«, in FAZ, 25.11.2003, Nr. 274, S. 35

[9] Die Zeit 2007, Nr. 52, Philosophie: Die Gefährten

[10] Dazu braucht es Museen, Bibliotheken, Denkmäler, auch die Errichtung neuer Erinnerungsstätten, die Pflege immaterieller Traditionen usw.

[11] Wobei bei manchen Menschen ja auch die Erkenntnis, dass 1 und 1 Zwei ist, tiefe Freude und Befriedigung auslösen können soll.

[12] Wenn heute Menschen, die im Elend leben, das Vaterunser beten, dann müssten sie sich angesichts der impliziten Hoffnungen und Perspektiven darin aufgehoben fühlen. Und wenn wir das Vaterunser sprechen in den reichen Gesellschaften des Westens müssten wir es eigentlich mit der Angst zu tun bekommen.